SEIT 20 JAHREN TSCHERNOBYL

das taz-dossier

14 Beiträge

Die tageszeitung, 22.4.2006

das taz-dossier 1

SEIT 20 JAHREN TSCHERNOBYL: VON VERTIEBENEN UND RÜCKKEHRERN

Krank und betrogen

Die Weißrussin Lidia Jurassewa hat durch Tschernobyl ihre Heimat verloren, heute lebt sie von einer Hungerrente in Minsk. Andere wohnen wieder in ihrem verstrahlten Dorf

AUS MINSK UND SAWITSCHI

ANNETTE JENSEN

Als die dunkle Wolke kam, haben sich die Frauen in Garbawitschi gefreut. Es war ein ungewöhnlich warmer und trockener April gewesen, die Erde brauchte Wasser. "Viele von uns sind nass geworden. Aber das hat niemanden beunruhigt", sagt Lidia Jurassewa. Schließlich hat jeder auf dem Land ordentliche Gummistiefel. Keine von ihnen hatte schon mal etwas von Radioaktivität gehört. Und auch von dem 150 Kilometer entfernten Atomkraftwerk wussten sie nichts.

Wie an jedem anderen Tag trieben Lidia Jurassewa und ihre 27 Kolleginnen die Kühe der Kolchose in den Stall. Sie schlossen die Melkmaschine an die Euter und kippten Futter in die Tröge - bis einer die gelbe Schmiere auffiel, die sich überall auf Boden und Dächern absetzte. Was das sei, wollten sie von der Betriebsleitung wissen. "Die haben uns erzählt, dass die Kiefern in diesem Jahr besonders viel Pollen produzieren." Doch in der Nähe von Garbawitschi wuchsen gar keine Kiefern. Die Frauen wunderten sich ein bisschen, dachten dann aber nicht weiter darüber nach.

Am Abend fühlte sich Lidia Jurassewa schlapp. Ein paar Kolleginnen meldeten sich krank. Fünf Tage später kamen Soldaten und gruben an einigen Stellen die Erde um. Niemand nannte den Bewohnern einen Grund. Erst als das Fernsehen berichtete, dass es im Kraftwerk Tschernobyl einen Unfall gegeben habe und auch eine Landkarte gezeigt wurde, ahnten die Menschen in Garbawitschi: Der Regen vor ein paar Tagen war kein normaler Regen. 

Wenig später traf ein Trupp Veterinäre im Dorf ein. "Sie haben alle unsere Kühe und Pferde getötet", berichtet Lidia Jurassewa und schluckt. Ihr großer Garten, der sie und ihre Familie immer mit Äpfeln, roter Beete und Kohl versorgt hatte, wurde zu einem krank machenden Stück Erde erklärt. Niemand sollte mehr selbst angebautes Gemüse und Obst verzehren.

Noch sechs Jahre lebten die Menschen in Garbawitschi - abhängig von Lebensmittellieferungen. Dann kam der Befehl zur Räumung. "Wir durften nichts mitnehmen." Ihre Holzhäuser mit den Schnitzornamenten rund um die Fenster und die bunt gestrichenen Lattenzäune wurden angezündet. Bulldozer walzten über die verkohlten Reste.  

Lidia Jurassewas geschwollene Finger trommeln auf einen abgewetzten Küchentisch, der im sechsten Stock eines Minsker Hochhauses steht. Ihre Gewohnheit, auch zu Hause ein Kopftuch zu tragen, hat sie beibehalten. "Sie hatten uns neue Möbel und einen Kühlschrank versprochen", sagt sie. "Nichts, rein gar nichts, haben uns die Behörden gegeben", stößt sie hervor. Kurz blitzt es in den Augen der heute 59-Jährigen, die sonst eher müde und resigniert wirkt.

Drei selbst gebaute Hocker, ein Stuhl und ein kleiner Tisch, ein laut brummender Kühlschrank, der Herd und ein klappriger Schrank - mehr Mobiliar gibt es bis heute in Lidia Jurassewas Küche nicht. Die übrigen Zimmer sind mit Betten voll gestellt. Neun Menschen teilen sich die Dreizimmerwohnung. Sogar vor dem Schrank auf dem Flur steht eine Schlafcouch.  

Einige Familien aus Garbawitschi kamen nach Minsk, andere nach Bobruisk. Allein in Weißrussland haben 135.000 Menschen in Folge von Tschernobyl ihre Heimat verloren. Den einen oder anderen alten Bekannten trifft Lidia Jurassewa noch im Lebensmittelladen. Man grüßt sich. "Viel Kontakt haben wir nicht. Die meisten sind krank und kommen kaum noch aus dem Haus."  

Von den 27 Frauen, mit denen sie im Stall gearbeitet hat, sind bis auf eine alle gestorben. Auch Lidia Jurassewas Tochter ist tot. Nun wohnen deren beiden Kinder bei der Großmutter. Der 15-jährige Anatol hat seit der Geburt einen Herzfehler und einen krummen Rücken. Er ist schwach und darf sich beim Sport nicht anstrengen. Seine Schwester hat starke Magen- und Darmprobleme.  

Lidia Jurassewas Herz und Nerven sind angegriffen, und sowohl Rücken als auch Beine machen ihr Probleme. Erst vor kurzem war sie wieder für zwei Wochen im Krankenhaus. Sie brauche Infusionen, hat der Arzt gesagt. "Aber bei uns bekommt man nur Medikamente, wenn man sie bezahlen kann." Weil ihre Waden und Füße geschwollen sind, läuft Lidia Jurassewa zu Hause barfuß herum. An manchen Tagen humpelt sie nur bis zur Küche und zur Toilette - vorbei an den Kalenderblättern mit den filigranen Ballerinas des Bolschoitheaters, die sie auf die speckige Flurtapete geklebt hat. Die meiste Zeit liegt sie in ihrem formlosen Kittelkleid im Bett, starrt auf einen Wandteppich mit Hirschen oder zum Fenster, hinter dem es nichts zu entdecken gibt als Hochhäuser und baumlose Wiesen. "Niemand hier braucht uns."  

200.000 weißrussische Rubel, 80 Euro Rente erhält Lidia Jurassewa, dazu kommen noch einmal 120.000 Rubel Waisenrente für Anatol und seine Schwester. Fast die Hälfte des Haushaltseinkommens geht für die Miete drauf. Viel mehr als Kartoffeln, Kohl und Brot kann Lidia Jurassewa nicht auf den Tisch bringen. Zwar arbeiten ihre Söhne gelegentlich auf dem Bau. Doch wie ihr Vater treiben sie sich jetzt viel herum, und ihr Verdienst verwandelt sich schnell in ein paar Wodkaflaschen. Einmal ist Lidia Jurassewa noch dort hingefahren, wo früher Garbawitschi lag, wo sie geboren wurde und bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahr gelebt hat. "Es gab da nichts mehr. Alles ist überwuchert."  

Ortswechsel. Sawitschi liegt 35 Kilometer von Tschernobyl entfernt, unmittelbar neben der Todeszone. Die Scheiben fast aller Häuser sind zerbrochen. Bäume und Büsche drängen sich ans Mauerwerk, als ob sie die Fremdkörper in ihrer Mitte wegdrücken wollten. 20 Jahre ist es her, dass die 1.500 Einwohner abtransportiert wurden. Doch anders als in Garbawitschi setzten die Behörden hier keine Bulldozer ein. So ragt heute zwischen Dutzenden Ruinen das alte Haus von Wiktor und Antonia Zerlujko hervor. Die Fensterrahmen haben sie akkurat mit blau-roten Mustern verziert, vorm Eingang blühen Studentenblumen, und in einem lauschigen Eckchen neben dem Apfelbaum steht eine überdachte Koje, die im Sommer als luftige Schlafgelegenheit dient. Im Auslauf hinterm Haus scharren ein paar Hühner, das Schwein beschnüffelt ein Häufchen Kartoffelschalen.  

Nur fünf Monate waren Wiktor und Antonia fort, damals im Herbst 1986. "Mitten in der Ernte hieß es plötzlich: Alle weg hier", erinnert sich der 65-Jährige und schiebt seine aus Zeitungspapier gebastelte Mütze aus der Stirn. Die beiden kamen in einem Ort nördlich von Gomel unter, wo Wiktor einen Job als Elektriker fand. Doch schon nach ein paar Tagen hatten sie Heimweh. Und als Wiktor wegen einer gebrochenen Hand nicht arbeiten konnte und der Chef sie aus der kostenlosen Werkswohnung schmeißen wollte, stand für die Eheleute fest: Wir gehen zurück. Bei 40 Grad minus schlugen sie sich nach Sawitschi durch. Zwar hatte die Miliz das Gebiet abgesperrt. Doch zum Glück arbeitete dort auch ein Freund - und es gab keinen Ärger.  

Angst vor der Radioaktivität haben die beiden nicht. "Man sieht ja nichts, deshalb vergisst man es." Ob die Kartoffeln und rote Beete aus dem Garten belastet sind, haben sie nie überprüfen lassen. Und Pilze essen sie beide nicht gern.  

Bald nach der Rückkehr fand Wiktor eine Anstellung als Maschinist in einer 25 Kilometer entfernten Kolchose; zwei Jahre lang zahlte die wegen der radioaktiven Belastung sogar doppelten Lohn. Antonia kümmerte sich um Schweine, Hühner und den Garten - und, nachdem die Tochter gestorben war, auch um die beiden halbwüchsigen Enkel.  

Obwohl das Dorf offiziell geräumt war und die staatlichen Messkarten bis heute extrem hohe Cäsiumwerte aufweisen, kam nach einer Weile sogar wieder der Schulbus. Zum 10. Tschernobyl-Jahrestag stattete sogar Staatspräsident Alexander Lukaschenko dem Ort einen Besuch ab. "Es war ein angenehmes Gespräch", erinnert sich Wiktor und bedauert, dass es das Staatsväterchen wohl kaum schaffen wird, zum 20. Jubiläum noch einmal in Sawitschi vorbeizuschauen. "Er hat ja so viele Sorgen und muss sich um vieles kümmern."  

Dass Wiktor starken Bluthochdruck hat und im letzten Monat schon wieder mit starken, undefinierbaren Bauchschmerzen vom Notarzt abgeholt werden musste - nein, das habe wohl kaum etwas mit Tschernobyl zu tun. "In unserem Alter gibt es keine gesunden Menschen", ist er überzeugt. Und auch Antonia will den Unfall vor 20 Jahren nicht so wichtig nehmen. "Wir fühlen kaum, dass so viele Häuser leer stehen", sagt die 60-Jährige, während sie vor dem Haus auf der Bank sitzt und die staubige Straße hinunterblickt. Sicher, früher gab es oft einen spontanen Plausch am Gartenzaun. Aber zum Glück besitzt ja heute fast jeder Telefon. So hält Antonia Kontakt zu ihrer alten Nachbarin. Die lebt in Kiew. In einem Hochhaus.

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"die tageszeitung", 22.4.2006

 

Ausflug in die Todeszone

Nur wer eine Genehmigung hat, kommt näher als 30 Kilometer an den Tschernobyl-Reaktor heran. Immer mehr Touristen buchen inzwischen einen solchen Gruseltrip und treffen hier auf Überlebende

  AUS DER SPERRZONE BARBARA OERTEL

  Der Kleinbus stoppt vor dem Schlagbaum. "Kontrollpunkt Disjatki", steht in großen Lettern auf einem Schild. Ein weiteres verkündet: "Stopp! Radioaktivität! Verbotene Zone!" Maxim, Begleiter der Gruppe, reicht dem Wachposten die Pässe und ein offizielles Schreiben des ukrainischen Atomministerium. Der Uniformierte überprüft die Dokumente und wünscht "gute Weiterfahrt".

  Dreißig Kilometer von diesem Punkt entfernt ereignete sich am 20. April 1986 der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Atomkraftnutzung. Um 1 Uhr, 23 Minuten und 40 Sekunden explodierte der vierte Reaktor in Tschernobyl. Das radioaktive Material, das dabei in die Luft geschleudert wurde, kontaminierte vor allem weite Teile der Ukraine und Weißrusslands. Das ukrainische Gesundheitsministerium schätzt, dass 2.646.106 Menschen in der Ukraine an den Folgen des Unfalls erkrankten, unter ihnen 643.030 Kinder.  

Mühsam arbeitet sich der Kleinbus auf den verschneiten Wegen vorwärts und erreicht nach zehn Minuten das Dorf Scherepatsch. Zwischen Gestrüpp ducken sich kleine Holzhäuser mit eingeschlagenen Fenstern und schief sitzenden Türen. In einiger Entfernung modern lang gestreckte Stallruinen vor sich hin. Unmittelbar nach der Katastrophe waren aus der Region um Tschernobyl 151.000 Menschen evakuiert worden, in den folgenden Jahren mussten weitere 210.000 ihre Heimat verlassen. Wer in die 30-Kilometer-Zone, die so genannte Todeszone will, braucht bis heute eine Sondergenehmigung.  

Doch die Todeszone ist alles andere als tot. Der Bus erreicht die Stadt Tschernobyl. In der Hauptstraße, der Uliza Sovetskaja, reihen sich Plattenbauten aneinander. Über der Straße verlaufen Gas-, Strom- und Telefonleitungen. "Die wurden oberirdisch verlegt, weil der Boden verseucht ist", erklärt Maxim.  

Vor der Katastrophe lebten in Tschernobyl 12.000 Menschen, heute sind es immer noch zwischen 2.000 und 4.000. Sie arbeiten bei der Feuerwehr, der Miliz, der Gebietsverwaltung, in Geschäften, Wäldern oder der einzigen Bar vor Ort. Maximal zwei Wochen pro Monat dürfen sie sich in der Zone aufhalten.  

Auch Maxim pendelt in diesem Rhythmus zwischen Tschernobyl und der 150 Kilometer entfernten ukrainischen Hauptstadt Kiew. Hat er keine Angst? "Ich habe mich daran gewöhnt und tue eben meine Arbeit", sagt er und hält seinen Dosimeter hoch. "Gucken Sie mal", sagt er, "hier ist die Strahlung geringer als in Kiew."  

Im Eingang der Außenstelle des Kiewer Katastrophenschutzministeriums steht ein altertümlich anmutendes Strahlenmessgerät. Besucher stellen sich auf eine Platte und legen die linke und rechte Hand jeweils auf eine Eisenfläche. Dann leuchtet ein grünes Lämpchen auf: "Sauber". Im ersten Stock erläutert ein Mitarbeiter an einer Wandkarte den Verseuchungsgrad der verschiedenen Zonen. Er und seine Kollegen können sich dieser Tage kaum vor Nachfragen retten. Sind es zur Zeit vor allem Journalisten und Experten, die die Zone unsicher machen, melden sich seit einigen Jahren auch immer mehr Touristen zu dem Gruseltrip an.  

Durch das Treppenhaus zieht der Geruch von gebratenem Fleisch. Für Mitarbeiter und Besucher bietet die hauseigene Kantine ein "ökologisch reines" Mittagessen an - Pilze und Beeren fehlen auf der Speisekarte.  

"Nun denn, mit Gott", sagt Pjotr, der Fahrer, und lässt den Motor an. Zwanzig Minuten später stoppt der Bus auf einer etwas erhöht gelegenen Brücke - nur wenige Meter vor der Stadt Pripjat. Zu dieser Brücke liefen die Menschen in der Nacht der Katastrophe vor zwanzig Jahren, um das Feuer im Kraftwerk besser beobachten zu können. Niemand konnte wissen, dass die radioaktive Strahlung auf der Brücke mit am höchsten war.  

Hinter einem großen Stein mit der Aufschrift "Pripjat 1970" wartet der nächste Schlagbaum. Wieder kontrolliert ein Wachposten die Ausweise. Dann biegt der Bus in die schnurgerade Hauptstraße, die Uliza Sportivnaja, ein. Aus den verwitterten Häuserblocks starren den Besuchern leere Fensterhöhlen entgegen. "Die Partei Lenins ist die Kraft des Volkes. Sie führt uns zum Sieg des Kommunismus" steht an einer Hauswand. Ein paar Meter weiter zeigt Maxim auf ein flaches, lang gezogenes Gebäude. Der kurze Weg von der Straße führt durch kniehohen Schnee. Direkt vor dem Eingang liegen Scherben. "Mittelschule Nummer III" ist noch zu entziffern. Im Inneren der fensterlosen Räume ist von den schimmeligen Wänden der Putz abgeblättert. In der Turnhalle sind Reste eines Barrens und von Holzbänken zu besichtigen. Maxims Dosimeter rast.  

Kurz darauf stoppt Pjotr den Bus auf dem Hauptplatz. Auf dem vereisten Boden liegt eine leere Marlboro-Schachtel. Linkerhand erhebt sich das Hotel Polissija. Ein flaches Gebäude in der Mitte war einst das "Restaurant und Kulturpalast Energetik", hier haben die Kraftwerksarbeiter und ihre Familien ihre Freizeit verbracht. Die einstige Straßenbeleuchtung - metallene Gestänge, von denen Hammer und Sichel baumeln - rostet vor sich hin.  

Pripjat war bis zum Tschernobyl-GAU eine Vorzeigestadt in der ukrainischen sozialistischen Sowjetrepublik. Das Durchschnittsalter der 50.000 Bewohner lag bei 28 Jahren, die meisten von ihnen verdienten gutes Geld im Atomkraftwerk. Binnen drei Tagen nach dem Unfall wurden sie alle evakuiert. Die Menschen sollten nur das Wichtigste und Lebensmittel für drei Tage mitnehmen. Anschließend könnten sie wieder zurückkehren, lautete damals die offizielle Auskunft. Doch zurück kam keiner. Pripjat wurde zur Geisterstadt.  

Pjotr lässt seinen Blick über den Platz schweifen. "Pripjat war eine wunderschöne Stadt", beteuert er. "Der Bürgermeister liebte Rosen und ließ in jedem Jahr diesen Platz bepflanzen. Wir haben die Menschen hier beneidet." Alle Produkte habe es zu kaufen gegeben, und schon nach einem halben Jahr bekam man eine Wohnung. Pjotr seufzt. "Dort hat die Leitung des Atomkraftwerks gewohnt", sagt er und weist mit dem Finger auf ein großes Gebäude. "Nach der Katastrophe haben sie jedes einzelne Haus abgewaschen. Doch es war alles umsonst." Zwischen den Stelen der Balkons beträgt die Radioaktivität auch heute noch 4.000 Mikroröntgen.  

Maxim klopft an die Tür einer Holzhütte. Als sie sich öffnet, stürzt ein Huhn heraus. Kurz darauf erscheint die Bewohnerin. Maria Schirlau sieht aus, als sei sie einem Roman von Alexander Puschkin entsprungen. Die kleine Frau ist fast so breit wie hoch und steckt in einem grob gestrickten Wollpullover, einem karierten Rock und Filzstiefeln, den Valenkis. Auf dem Kopf trägt sie ein Tuch. "Treten Sie ein", sagt sie freundlich und entblößt ihre letzten beiden Zähne. Maria Schilau gehört zu den 350 so genannten Rücksiedlern, die trotz des offiziellen Verbots wieder in die 30-Kilomer-Zone zurückgekehrt sind. In ihrem Dorf Paryschew, fünfzehn Autominuten von Pripjat entfernt, leben außer ihr noch weitere 15 Alte.  

In der spartanisch eingerichteten Behausung steht die Luft. "Wo hätte ich denn hingehen sollen", fragt die 75-Jährige. Ein Jahr nach ihrer Evakuierung ist sie wieder in ihr Dorf zurückgekehrt, in dem vor dem Atom-GAU etwa 1.000 Menschen lebten. Zwar habe sie nach der Katastrophe fast alle ihre Zähne verloren. "Aber Angst habe ich keine. Anderswo werden die Menschen auch krank und sterben", sagt sie. Zweimal in der Woche komme jetzt eine Krankenschwester vorbei, genauso oft wie der Bus, der sie und die anderen mit Lebensmitteln beliefere.  

Dann geht sie zu einer kleinen Kommode, greift nach zwei gerahmten Fotografien und zeigt sie den Besuchern. In ihren Augen stehen Tränen. "Meine beiden Söhne. Sie waren 46 und 51 Jahre alt, als sie starben. Beide haben im Atomkraftwerk gearbeitet."  

Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und ihre Augen leuchten. "Neulich war unser Präsident Wiktor Juschtschenko hier und hat Lebensmittel verteilt. Er hat uns allen in der Nähe von Kiew eine Wohnung versprochen." Glaubt sie daran? "Ich weiß es nicht, aber der Präsident muss doch die Menschen beruhigen und sie ein wenig froh machen", sagt sie.  

Als der Bus den Schlagbaum hinter sich gelassen hat, atmet Pjotr tief durch. Doch schon morgen wird er mit einer Gruppe wieder in die Todeszone fahren. "Das ist mein Job. Einen anderen habe ich nicht, und ich muss doch auch irgendwie überleben." Findet er es nicht komisch, dass sich Besucher scharenweise in die Zone fahren lassen? "Den Menschen zieht es doch immer dorthin, wo es gefährlich und eigentlich verboten ist", sagt er und zuckt die Schultern. "Jeder lebt seine extremen Neigungen eben auf seine Weise aus."  

taz vom 22.4.2006, S. 3, 250 Z. (TAZ-Bericht), BARBARA OERTEL

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"die tageszeitung", 22.4.2006

das taz-dossier 3

Strahlende Jobmaschine

Bis vor sechs Jahren produzierte Tschernobyl Strom.

Noch heute stehen dort Tausende auf der Lohnliste

AUS DEM KRAFTWERK NICK REIMER

Mitnichten war der GAU vor 20 Jahren das Ende des Atomkraftwerks. "Derzeit arbeiten hier aber nur noch 3.860 Menschen", sagt der zweite Generaldirektor der Anlage, Andre Wladislawisch Schatzmann. "Nur noch" meint: Vor fünf Jahren waren es mehr als 10.000 Menschen, die vis-à-vis des Sarkophags ihr Geld verdienten. Trotzdem haben die Wachleute an den Sicherheitsschleusen mächtig zu tun: Nach den Terroranschlägen 2001 wurden auch hier die Sicherheitskontrollen verschärft.  

Einst wollte die Sowjetunion hier den größten atomaren Kraftwerkspark der Welt bauen. Elf Blöcke waren geplant. Nach dem Unfall mussten die Bauarbeiten eingestellt werden. An den Reaktorgebäuden Nummer fünf und sechs ragen immer noch die Kräne in den Himmel. Die weitgehend fertigen Hallen dienen inzwischen als Zwischenlager für den Müll der atomaren Katastrophe.  

"300 Milliarden Kilowattstunden haben wir produziert", sagt Schatzmann. Bis zur Jahrtausendwende lieferte Tschernobyl Strom. Ende 2000 ging der letzte der drei noch betriebenen Atomblöcke vom Netz. "Dafür gab es keinen technischen Grund", sagt Schatzmann. Man sei lediglich internationalen Verpflichtungen nachgekommen.  

Kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine begann 1994 ein diplomatisches Tauziehen zwischen der Europäischen Union und der ehemaligen Sowjetrepublik. Die Westeuropäer wollen unbedingt, dass die drei noch laufenden Tschernobyl-Reaktoren abgeschaltet würden. Der damalige Präsident Leonid Kutschma witterte eine sprudelnde Geldquelle. Im "Memorandum of Understanding" verpflichteten sich die führenden Wirtschaftsstaaten der G 7, "die Schließung der Reaktoren finanziell zu unterstützen". Ende 1998 verabschiedete das ukrainische Parlament ein entsprechendes Gesetz.  

Doch erst einmal fuhren jeden Tag weiterhin 10.000 Menschen ins Atomkraftwerk. Die Sowjetunion hatte nach dem GAU 40 Kilometer entfernt auf einer weniger verstrahlten grünen Wiese eine neue Stadt gebaut: Slawutitsch. Dessen 27.000 Einwohner lebten praktisch alle vom Betrieb der Blöcke eins bis drei. Zum AKW pendelten sie mit dem Zug, der an einer Dekontaminierungsschleuse endete. Die ist inzwischen allerdings außer Betrieb: Zu selten schlagen die Messgeräte Alarm. Im Kraftwerk selbst soll die Strahlung geringer sein als an vielen anderen Stellen in der Todeszone.  

Alarm geschlagen hat dagegen vor drei Jahren die ukrainische Atomaufsicht: Sie stoppte die Arbeiten am Zwischenlager für festen Atommüll, das unmittelbar neben den stillgelegten Meilern entstehen soll. Generalauftragnehmer für den Bau war der französische Staatskonzern Framatom. Seither streiten sich die Ukrainer mit den Franzosen über die in den Sand gesetzten Euromilliarden. Es heißt, die französischen Ingenieure hätten fehlerhaft geplant. Es heißt allerdings auch: Die Ukrainer hätten die Fehler gern umgesetzt; je länger sich der Rückbau auf dem Areal hinzieht, desto länger haben sie hier schließlich eine Zukunft.  

"Viele Slawutitscher haben sich bei anderen Atomkraftwerken beworben", erzählt ihr Vizebürgermeister Wladimir Konstantinowitsch Zhygallo. Doch die Tschernobyler hätten wenig Chancen. Kollegen aus Russland seien mindestens ebensolche Fachleute, jedoch deutlich billiger. So bemüht sich Zhygallo, Ersatzarbeitsplätze in seine Stadt zu holen. Doch bislang hatte er nur wenig Erfolg: Außer dem Internationalen Tschernobyl-Forum und einer Hemdenfabrik wollte sich hier noch keine größere Firma ansiedeln.  

Immerhin wird das Zwischenlager für flüssigen Atommüll pünktlich zum Jahrestag in Probebetrieb gehen. Finanziert von der EU, baute es die Siemens-Tochter Nukem. "Ein Problem weniger", sagt der Generaldirektor. Es bleiben genügend andere. Etwa der neue Sarkophag, wie die Betonhülle über dem explodierten Block 4 genannt wird. "Der Ministerrat hat gerade die Pläne bestätigt, das internationale Ausschreibungsverfahren wird unmittelbar vorbereitet", so Schatzmann - bevor er sich "leider verabschieden" muss: Vor der Tür warten die Abteilungsleiter.

  Der Besucher wird den Einduck nicht los, dass sie alle froh sind, jeden Tag zum Ort des GAU zurückkommen zu dürfen.  

taz vom 22.4.2006, S. 4, 118 Z. (TAZ-Bericht), NICK REIMER

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"die tageszeitung", 22.4.2006

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0118.1/text  

das taz-dossier 3

Explosion um 1.23 Uhr

Versagen des Personals, Konstruktionsmängel und das Sowjetsystem sind als Ursachen für den Super-GAU identifiziert worden. Erst die Schweden durchbrachen das Schweigen  

Für die westliche Welt begann der Reaktorunfall am Montagmorgen: Da schlugen schwedische Messstationen Alarm, sie maßen radioaktiven Fallout. Erst am Abend dieses Tages gaben die Sowjetbehörden auf internationalen Druck hin zu, dass in Tschernobyl "ein Atomreaktor beschädigt" sei. Keine weiteren Informationen - außer dass eine staatliche Kommission installiert worden sei.

  Die Wahrheit kam erst nach und nach ans Licht. Zwei Tage vorher, am Samstag, den 26. April 1986 um 1.23 Uhr war zum ersten Mal in der Geschichte der kommerziellen Atomkraft ein Reaktor explodiert - der Block 4 des ukrainischen Standorts Tschernobyl.

  Die vier Reaktoren dort waren vom Typ RBMK 1000, aus dem Russischen übersetzt etwa "Hochleistungsreaktor mit Kanälen". Ihre Stromerzeugung liegt bei maximal 1.000, ihre Heizleistung bei 3.000 Megawatt. Bedeutender Nachteil: Die reaktionssteuernden langsamen Neutronen werden von brennbarem Graphit erzeugt. Die Meiler gingen erst 1983 gerade noch rechtzeitig innerhalb des damals gültigen Fünfjahresplans der Sowjetunion ans Netz. Nicht einmal für alle vorgeschriebenen Probeläufe hatte es in der Eile gereicht. Einer davon sollte am 25. April 1986 nachgeholt werden. Der Versuch sollte beweisen, dass bei einem Verlust des Kühlmittels und gleichzeitigem Ausfall der Stromversorgung der Reaktorkern trotzdem noch ausreichend lange gekühlt werden kann.

  Der Versuch läuft auch an, wird aber unterbrochen, weil die ukrainische Hauptstadt Kiew Strom anfordert. Erst neun Stunden später wird das Experiment fortgesetzt - nun allerdings mit einer neuen, nicht auf den Test eingestellten Betriebsmannschaft und mit einem Reaktorkern, dessen Zustand eigentlich nicht für das Experiment geeignet ist. Als die Leistung des Reaktors weiter gedrosselt wird, bricht die Kettenreaktion im Reaktor unvorhergesehen zusammen. Anstatt nun den Versuch abzubrechen und alle Kühlmittelpumpen wieder anzuwerfen, macht die Mannschaft weiter. Viele Sicherheitssysteme sind entgegen den Vorschriften abgeschaltet.

  Plötzlich steigt die Leistung des Reaktors an. Die Experimentatoren versuchen noch eine Notabschaltung. Das misslingt, auch auf Grund der Konstruktionsmängel dieser Reaktorlinie. Der Reaktorkern produziert innerhalb von Sekunden die zehnfache Maximalleistung, etwa 30.000 Megawatt. Das sprengt alle Rohre und den Reaktorbehälter, um 1.23 Uhr und 47 Sekunden fliegt er auseinander und reißt auch das Dach auf.

  Heißer Dampf steigt in die Höhe. Mit dem eindringenden Sauerstoff brennt das Graphit im Reaktor und erzeugt so immer neuen Sog. Löscharbeiten laufen an, sind jedoch nutzlos. Noch Tage später glüht der Reaktorkern hellweiß vor Hitze. Der Nachbarreaktor, nur durch eine Wand getrennt, ist durch die Hitze bedroht, hält aber stand. Der Wind weht. REM 

taz vom 22.4.2006, S. 4, 81 Z. (TAZ-Bericht), REM

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"die tageszeitung", 22.4.2006

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0120.1/text 

das taz-dossier 4

Die Vereinten Nationen lügen

Berichte über die Folgen des Unfalls in Tschernobyl weisen eklatante Fehler auf und verschleiern das wahre Ausmaß der Katastrophe. Das hat System

AUS BERLIN ANNETTE JENSEN

Im vergangenen Herbst gelang der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ein großer Coup. Am Ende ihres Tschernobyl-Kongresses in Wien verbreiteten fast sämtliche Medien die Nachricht: Bisher sind weniger als 50 Menschen durch den Atomunfall gestorben, höchstens 4.000 Tote sind noch zu erwarten - also alles halb so schlimm. Und das Beste aus Sicht der IAEA, deren Hauptaufgabe die Förderung der zivilen Atomkraft überall auf der Welt ist: Nicht nur ihr eigenes Logo stand über der entsprechenden Pressemitteilung. Noch zwei weitere UNO-Organisationen zeichneten für die Pressemitteilung verantwortlich.  

Vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab dem Ganzen den Anstrich unzweideutiger Objektivität. Doch wer sich näher mit den umfänglichen Unterlagen beschäftigt, die auf dem Kongress veröffentlicht wurden, stößt schnell auf eklatante Fehler und Widersprüche.  

Die WHO hatte in Wien ein 180-Seiten-Papier über die Gesundheitsfolgen von Tschernobyl vorgelegt. Dabei handelt es sich um eine sehr unvollständige Literaturstudie. Zwar betont die WHO immer wieder, dass sie die Arbeiten von hunderten von Wissenschaftlern gesichtet habe. Doch ein erheblicher Teil insbesondere der auf Russisch publizierten Forschungsarbeiten bleibt einfach außen vor.  

Als zentrale Grundlage zur Abschätzung der zu erwartenden Todesfälle dient der WHO eine zehn Jahre alte Expertise von Elisabeth Cardis von der "International Agency for Reasearch on Cancer" in Lyon. Sie bezieht sich ausschließlich auf die zu erwartenden Leukämie- und Krebsopfer in Weißrussland, Russland und der Ukraine. Die zur Schätzung relevante kollektive Strahlendosis berechnet Cardis darüber hinaus lediglich bis zum Jahr 1995. Indem die WHO diese Zahlen übernimmt und sie als zu erwartenden Gesamtschaden durch Tschernobyl darstellt, ignoriert sie, dass ein Drittel der Strahlenbelastung wegen der langen Halbwertzeiten der radioaktiven Substanzen erst nach 1995 auftritt. Außerdem hat Krebs häufig lange Latenzzeiten. Auch Herzinfarkte und andere schwere Krankheiten fallen von vornherein aus der WHO-Todesfallstatistik heraus. Und dass es möglicherweise auch Opfer außerhalb der drei am stärksten verseuchten Länder gegeben hat, zieht die WHO gar nicht erst in Erwägung.  

Cardis trug ihre Forschungsergebnisse im vergangenen Jahr noch einmal selbst auf dem IAEA-Kongress in Wien vor. Sie erwartet nicht nur, dass 2.200 Katastrophenhelfer und 1.760 Bewohner hoch verstrahlter Gebiete den Reaktorunfall mit dem Leben bezahlen - was den später in der Pressemitteilung erwähnten rund 4.000 Todesfällen entspricht. Die Wissenschaftlerin prognostizierte darüber hinaus auch 370 Leukämie- und 4.600 sonstige Krebstote in den weiterhin bewohnten, mittelstark belasteten Gebieten.  

Doch diese fast 5.000 Menschen ließ die IAEA am Schluss der Konferenz einfach unter den Tisch fallen: "Das Expertenteam (fand) keinen Beweis für einen Anstieg von Leukämie und Krebs bei den betroffenen Bewohnern." Offenbar haben die Verantwortlichen in der Weltgesundheitsorganisation nicht gegen diese Formulierung in der Pressemitteilung protestiert - obwohl sie ihrer eigenen, auf dem Kongress vorgelegten Expertise eindeutig widerspricht.  

Doch auch die WHO-Studie selbst gibt das Ausmaß der Gesundheitsfolgen auf keinen Fall zutreffend wider. Obwohl unbestritten 600.000 bis 800.000 meist jüngere Männer in der 30-Kilometer-Zone rund um den explodierten Reaktor aufgeräumt und den Sarkophag gebaut haben, gehen bei der WHO-Studie lediglich 200.000 überhaupt in die Berechnungen ein. Außerdem sind die Daten über die Strahlenbelastungen, denen sie ausgesetzt waren, unvollständig und äußerst unseriös. Längst nicht alle Liquidatoren waren bei ihrem Einsatz mit Messröhrchen ausgestattet. Außerdem gingen viele Dosimeter wegen der extrem hohen Strahlung schnell kaputt.  

Und immer wieder haben Katastrophenhelfer berichtet, dass ihre Vorgesetzten die Werte in den offiziellen Dokumenten schamlos manipuliert hätten. Für 37 Prozent der russischen und sogar 91 Prozent der weißrussischen Liquidatoren existieren überhaupt keine individuellen Messdaten. Dennoch bildet die WHO einen Mittelwert, auf dessen Grundlage sie die zu erwartenden Todesopfer abschätzt.  

Hinzu kommt, dass der Kreml 1987 per Erlass verboten hatte, dass "die akuten und chronischen Erkrankungen von Personen, die an der Liquidation der Folgen der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl teilgenommen haben und die eine Dosis von weniger als 50 rem haben [] in einen Zusammenhang mit der Wirkung ionisierender Teilchen gebracht werden." Schon zuvor waren alle Informationen über die radioaktive Belastung der Aufräumarbeiter zur Verschlusssache erklärt worden. Kurzum: Die Sowjetunion tat alles Erdenkliche, um die Höhe der Strahlung unter den Katastrophenhelfern zu vertuschen. Zugleich setzte sie die These in die Welt, dass lediglich bei ein paar heldenhaften Liquidatoren der ersten Stunde schwere Gesundheitsfolgen zu beklagen seien. Ansonsten seien die meisten Krankheitssymptome nicht auf die Radioaktivität selbst, sondern auf die Angst davor zurückzuführen. Dafür erfand man im Kreml den Ausdruck "Radiophobie".  

Die UNO unterstützt bis heute diesen Umgang mit dem Thema: " bis Mitte 2005 (konnten) weniger als 50 Tote direkt auf die Strahlung durch den Unfall zurückgeführt werden. Es handelte sich dabei vor allem um Rettungsarbeiter, die hoher Strahlung ausgesetzt waren und von denen viele innerhalb weniger Monate nach dem Unfall, manche aber auch erst 2004 starben." Daneben seien die psychischen Folgen "das größte Gesundheitsproblem, das vom Unfall verursacht wurde".  

Niemand weiß, wie viele Liquidatoren tatsächlich schon gestorben sind - auch weil nur die Hälfte von ihnen überhaupt registriert ist. 400.000 Männer kehrten in die verschiedenen Sowjetrepubliken zurück, ohne dass heute noch irgendwelche Aufzeichnungen über sie existieren. Verschiedene Studien belegen jedoch, dass vermutlich schon sehr viele ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt haben. So stellte der Minsker Professor für Kardiologie, Dimitri Lazyuk, für die Jahre 1992 bis 1997 fest, dass tödlich endende Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei ehemaligen Katastrophenhelfern neunmal so schnell angestiegen waren wie in der übrigen Bevölkerung.  

Auch Lungen-, Magen-, Darm-, Blasen- und Nierenkrebs sind unter den Liquidatoren wesentlich stärker verbreitet. Das Institut für klinische Radiologie in Kiew registrierte zudem eine krasse Zunahme von Geisteskrankheiten sowie neurologischen und sensorischen Störungen. Das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, ist für diese Männer fast fünfmal so hoch wie für ihre Zeitgenossen. Sehr viele leiden an Depressionen.  

Strahlenmediziner erstaunt die Entwicklung nicht: Nach den Atombombenabwürfen auf Hiroschima und Nagasaki wurde Ähnliches beobachtet. Die Ukraine geht davon aus, dass 94 Prozent der Liquidatoren heute mehr oder weniger schwer krank sind. Wie viele Suizid verübt haben, ist unklar. Immer wieder taucht die Zahl 50.000 auf. Belegen lässt sie sich nicht.  

Darüber hinaus unterschlägt die UNO auch viele wissenschaftliche Studien über die Bewohner der verstrahlten Gebiete. Ein Beispiel: Das Institut für Neurochirurgie in Kiew, dem alle Hirntumorfälle im Land gemeldet werden, hat seit 1987 eine Versechsfachung dieser Krebsart bei Kindern unter drei Jahren beobachtet. Eine andere Untersuchung aus der Ukraine belegt, dass sich die durchschnittlich verbleibende Lebenszeit von Magen- und Lungenkrebskranken nach 1986 deutlich verkürzt hat. Hatten die Patienten und Patientinnen vorher in der Regel noch drei bis fünf Jahre vor sich, so blieben ihnen zehn Jahre später gerade noch zwei Monate zu leben.  

Auch die Zahl einiger Leukämieformen nahm um bis zu 270 Prozent zu, wie Untersuchungen aus der weißrussischen Region Gomel zeigen. Dennoch heißt es im Kapitel des WHO-Berichts über Krebserkrankungen: "Kein definitiver Beweis einer messbaren Risikozunahme wurde bisher berichtet."  

Den extremen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei jungen Menschen, die 1986 noch nicht ausgewachsen waren, leugnet heute selbst die IAEA nicht mehr. Eindeutige Ursache ist das radioaktive Jod, das kurz nach der AKW-Explosion in großen Mengen in der Luft schwebte und sich schnell in den Schilddrüsen der Menschen ablagerte. Dort entwickelt es nun viele Jahre später seine Zerstörungskraft.  

Anfang der 90er-Jahre hatte die IAEA den Alarmruf ukrainischer und weißrussischer Wissenschaftler noch in den Wind geschlagen und behauptet, es gebe keine Gesundheitsrisiken, die sich direkt auf die Strahlenbelastung zurückführen lassen. Und auch heute versucht sie erneut abzuwiegeln. Dass nämlich nicht nur 4.000 damalige Kinder und Jugendliche, sondern auch 9.000 ältere Menschen in Weißrussland an Schilddrüsenkrebs leiden - und damit sechsmal so viele wie vor Tschernobyl -, unterschlägt sie weiter.  

Die dauerhafte Belastung mit radioaktivem Cäsium, das die Menschen durch Nahrungsmittel aufnehmen, führt außerdem zu vielen anderen Krankheiten. In Weißrussland berichten Ärzte von Herzrhythmusstörungen und sogar Herzinfarkten bei Minderjährigen. Das ukrainische Tschernobylministerium registrierte in den fünf Jahren nach der Reaktorexplosion einen vierzigfachen Anstieg von Kreislaufkrankheiten unter den Bewohnern besonders belasteter Gebiete. Schädigungen der Verdauungsorgane nahmen sogar um den Faktor 60 zu.  

Doch auch wenn die WHO sehr viele ernst zu nehmende Forschungsarbeiten ignoriert, bestreitet sie nicht, dass sich die Gesundheitslage in den belasteten Gebieten verschlechtert hat. Die zentrale Ursache dafür verortet sie aber jenseits der Radioaktivität: Auch in anderen Exsowjetrepubliken sinke schließlich die Lebenserwartung insbesondere der Männer, Desorientierung und Alkoholismus nähmen zu. "Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Probleme stellen eine viel größere Bedrohung für die lokalen Gemeinden als die Verstrahlung dar", heißt es in der gemeinsamen Presseerklärung von WHO und IAEA. Beweise für diese Behauptung bleiben die Autoren schuldig.  

Die unbestreitbaren Gesundheitsfolgen lastet die UNO fast völlig dem katastrophalen Krisenmanagement der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten an. Zwar bestreitet niemand, dass die Behörden die Menschen vielfach belogen, entmündigt und fatale Fehlentscheidungen getroffen haben. Doch ist die radioaktive Strahlung deshalb fast ungefährlich - und macht nur die Aufregung darüber die Menschen krank?  

taz vom 22.4.2006, S. 5-6, 155 Z. (TAZ-Bericht), ANNETTE JENSEN

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 5

Bis zu 60.000 Tote erwartet

Ein Experte versucht die Opferzahlen von Tschernobyl zu kalkulieren: Anhand der "Kollektivstrahlendosis" in einer bestimmten Region

BERLIN taz Eine Krebserkrankung oder einen Herzinfarkt kann man auch ohne Radioaktivität bekommen. Deshalb ist es unmöglich, einen individuellen Kranken eindeutig als Opfer von Tschernobyl zu identifizieren. Um die Zahl der Toten zu berechnen, muss stattdessen die Gesamtbevölkerung und ihre kollektive Belastung betrachtet werden: Wie viele Menschen haben wie viel Radioaktivität abbekommen? Und welche Dosis wirkt bei wie vielen Menschen tödlich?

  Langfristige Erfahrungen gibt es bisher nur aus Hiroschima und Nagasaki. Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) hat 1990 aus den dort gesammelten Daten versucht abzuschätzen, wie viele Menschen bei einer bestimmten Kollektivdosis vermutlich über kurz oder lang an Krebs sterben. Das Ergebnis: Pro Sievert sind fünf Prozent Tote zu erwarten. In diesen Wert einbezogen hat die ICRP bereits, dass hohe Konzentrationen wie in Hiroschima und Nagasaki vermutlich stärker krebsauslösend wirken als eine niedrigere Dauerbestrahlung.

  Einen ungefährlichen Grenzwert gibt es nach Ansicht fast aller Strahlenschützer aber nicht. Und zu dramatisch ist der ICRP-Wert wohl auch auf keinen Fall: Schließlich rechnet die Akademie der Wissenschaften in den USA in einer aktuellen Studie sogar mit einer siebenprozentigen Todesfallrate pro Sievert, wenn die Menschen einer permanenten Niedrigstrahlung ausgesetzt sind. Die für Atomstrahlung zuständige UNSCEAR rechnete zwischenzeitlich sogar mit elf Prozent.

  Der Physiker und Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, hat die Annahme der ICRP mit der radioaktiven Belastung verknüpft, der die Bevölkerung im Umkreis von Tschernobyl ausgesetzt war. Die Daten dazu stammen aus einem Bericht, den die UdSSR und die IAEA 1986 gemeinsam verfasst haben. Somit wären dort aufgrund der radioaktiven Belastung 120.300 Krebstote zu erwarten.

  Der britische Wissenschaftler Ian Fairlie, der im Auftrag der grünen Europaparlamentarierin Rebecca Harms die offiziellen UNO-Berichte aus dem vergangenen Herbst kritisch untersucht hat, verweist auf die Verteilung der Strahlung. Zwar werden die höchsten Konzentrationen in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemessen. Doch die größere Menge der Radioaktivität ist über dem übrigen Europa verteilt worden. Weil dort außerdem die Bevölkerungsdichte größer ist als in der Umgebung von Tschernobyl, liegt auch die Kollektivdosis und damit die durch Tschernobyl zu erwartende Krebsopferzahl höher als in Russland, Weißrussland und der Ukraine - abgesehen von den Katastrophenhelfern.

  Diese Berechnungen stammen nicht etwa von irgendwelchen Alternativorganisationen, sondern von der UNSCEAR, dem offiziellen Komitee der UNO für die Effekte von Atomstrahlung. In dieser Organisation sitzen ausschließlich Delegierte von Ländern, die selbst Atomkraftwerke betreiben.

  30.000 bis 60.000 Tote sind aufgrund dieser Daten zu erwarten, hat Ian Fairlie ausgerechnet. Herzinfarkte, Fehlgeburten und andere tödlich verlaufende Krankheiten sind dabei gar nicht einberechnet. Selbst wenn WHO und IAEA nur die Daten aus den anderen UNO-Einrichtungen wahrgenommen hätten, hätten sie also zu mindestens sieben- bis fünfzehnmal so hohen Todeszahlen kommen müssen wie in ihrem im September vergangenen Jahres veröffentlichten Bericht.

  ANNETTE JENSEN  

taz vom 22.4.2006, S. 6, 96 Z. (TAZ-Bericht), ANNETTE JENSEN

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"die tageszeitung", 22.4.2006

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0141.1/text

  das taz-dossier 6

  Die Stadt Pripjat wurde für die Arbeiter des Atomkraftwerks errichtet. Mehr als 50.000 Menschen lebten hier. Seit der Reaktorkatastrophe ist die Stadt leer, die Bewohner sind vertrieben, krank oder tot. Zurück bleiben nur die Dinge:

  taz vom 22.4.2006, S. 6, 9 Z. (TAZ-Bericht) __________________________________________________________

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das taz-dossier 6

"Wir sahen immer wieder Kinder. Von deformiertem Erbgut geschädigte, direkt oder im Mutterleib verstrahlte Kinder. Behinderte Kinder, Kinder mit Schilddrüsenkrebs, mit Hirntumoren und Kinder mit Leukämie. Traurige Häuflein in Krankenbetten, die Köpfe rasiert, die kleinen Gesichter aufgequollen von Hormonen, den Tag dahindämmernd in Erwartung einer weiteren Chemotherapie, der nächsten Laboruntersuchung, noch einer Operation. Wir sahen die Puppen auf den Kanten der Nachttische, die Ikonen auf Kissen und Fensterbänken. Wir hörten das Schluchzen der Mütter und fürchteten die grausame Stille im Reanimationszimmer, wenn der Arzt wieder einmal stumm den Kopf schüttelte."  

AUS: "20 Jahre Tschernobyl - Leben mit einer Tragödie", einem Fotobuch von Rüdiger Lubricht und Anatol Kliashchuk, erschienen im Schünemann Verlag 

taz vom 22.4.2006, S. 7, 22 Z. (TAZ-Bericht)

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http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0128.1/text

das taz-dossier 6

Die Fotos sind zu sehen in der Ausstellung "20 Jahre Tschernobyl" in der art gallery Hannover (27. 4.-3. 5.) - und unter dem Titel "Tschernobyl. Eine Katastrophe und ihre Auswirkungen" im Berliner Willy-Brandt-Haus (bis 14. Mai). Dort werden außerdem Bilder von Igor Kostin, Paul Fusco, Andreas Gefeller und Gerd Ludwig gezeigt.

taz vom 22.4.2006, S. 7, 7 Z. (TAZ-Bericht)

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 7

Invalide mit 25 Jahren

Pavel Lukaschow, einst Liquidator und "Held der Werktätigen", muss mit schweren Gesundheitsschäden leben. Er hat kein Geld für Medizin

GOMEL taz Er liebte das Leben - und ganz besonders seine Frau. Ungeduldig strich Pawel Lukaschow jeden Tag aus dem Kalender: Ende Oktober würde er aus der Roten Armee entlassen. Dann könnte er endlich zu ihr ziehen. Doch fünf Monate vorher wurde Lukaschow nach Tschernobyl abkommandiert. Zuerst musste seine Kompanie Chemikalien auf die Straßen kippen, die angeblich Radioaktivität binden kann. Später half er beim Bau des Sarkophags und fuhr einen Betonmischer. "Den Wagen haben sie später vergraben. Der war völlig verseucht." Die Soldaten bekamen zusätzliche Rationen Schokolade. Wein und Wodka sollten gegen Radioaktivität helfen. Und weil er die Gefahr weder spüren noch sehen konnte, machte sich Lukaschow nicht allzu viele Sorgen. Jeden Tag erhielten die Liquidatoren - so die offizielle Bezeichnung der Helfer - saubere Kleidung. Den Berechtigungsschein dafür hat Lukaschow neben andere Erinnerungsstücken in ein plüschbezogenes Album geklebt.

  Im Oktober 1986 heftete sein Vorgesetzter einen Blechorden an seine Brust. Die zugehörige Urkunde weist ihn als "Held der Werktätigen" aus. "Die Ärzte sagten damals, wir dürfen drei Jahre lang keine Kinder zeugen", erinnert sich der heute 39-Jährige. Fast hat er sich daran gehalten; seine Tochter ist inzwischen 17 Jahre alt, der Junge acht.  

Es dauerte nur ein paar Monate, bis Lukaschows Gesundheitsprobleme begannen. 1991 konnte er nicht mehr arbeiten: Mit 25 Jahren war er zum Vollinvaliden geworden. "Bei mir ist eigentlich alles kaputt: Muskeln, Knochen, Leber, Nerven. Und die Hirngefäße." Auch seine Kinder sind krank. Das Mädchen muss dauernd zum Arzt, weil ihre Nieren nicht funktioniert. Der Junge leidet unter Immunschwäche.  

Von seinen alten Geschichten und den Orden will die Familie nichts mehr wissen. Auch deshalb trifft sich Lukaschow mit den anderen Männern vom Selbsthilfeverein "Invaliden des Atomreaktors Tschernobyl". Anfang der Neunzigerjahre im weißrussischen Gomel von 750 Männern gegründet, sind heute nur noch 300 dabei. "Die meisten sind gestorben. Weggezogen sind die wenigsten", erläutert der Vereinschef Alexander Lukowski. Auch Selbstmorde habe es gegeben, murmelt er.  

Immer weniger schaffen regelmäßig den Weg zum Vereinshaus - eine alte Kate. Neben dem Eingang haben die Männer einen kleinen Raum für den Arzt eingerichtet. Der kommt gelegentlich, um die Vereinsmitglieder gegen ein Trinkgeld medizinisch zu beraten. Umgerechnet 80 bis 200 Euro Rente beziehen die einstigen "Helden der Werktätigen" im Monat; zu wenig, um die nötigen Medikamente zu kaufen. Und an Operationen ist schon gar nicht zu denken. Der Vereinsvorsitzende Lukowski bräuchte dringend einen zweiten Bypass. Doch wie soll er den bezahlen? Drei Jahreseinkommen würde der Eingriff den 60-Jährigen kosten. Doch das Geld hat er nicht. ANNETTE JENSEN

  taz vom 22.4.2006, S. 8, 81 Z. (TAZ-Bericht), ANNETTE JENSEN

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 7

Ein tödlicher Dienst

Lange waren die Krankheiten der kasachischen Tschernobyl-Veteranen Staatsgeheimnisse

AUS ALMATY MARCUS BENSMANN

Abai Esenbajew hat Glück gehabt. Schon zum dritten Mal erhielt der 57-jährige Kasache einen der begehrten Überweisung. Damit kann er in eines der zwei Krankenhäuser in Kasachstan, das sich auf Strahlenkrankheit spezialisiert hat.  Früher schob Esenbajew Wachdienst um den zerborstenen Atommeiler in Tschernobyl.

Wenige Jahre nachdem in sein kasachisches Heimatdorf zurückkehrt war, spielte sein Körper verrückt. Er bekam Gelenkschmerzen. Noch heute ist die Schilddrüse geschwollen, ihm ist ständig schwindelig und übel.  

Ein Jahr nach dem GAU in dem ukrainischen Atommeiler erhielt der damalige Offizier der Sowjetarmee den Einziehungsbefehl. "Man hatte ja keine Ahnung, wo sie uns hinschickten", erzählt der Mann mit der ledrigen Gesichtshaut, "nur über ausländische Radiosender hatten wir erfahren, dass da etwas Schlimmes passiert war." Über sechs Monate musste er mit seiner Einheit die Zugangswege bewachen, die Dörfer um den Reaktor evakuieren. "Es waren Geisterstädte." Seine in Tschernobyl geleistete Arbeit und seine zerstörte Gesundheit waren bis zum Zerfall der Sowjetunion ein Staatsgeheimnis.  

"Esenbajew leidet an der Strahlenkrankheit als Folge des Einsatzes in Tschernobyl", erklärt Professor Schangentchan Abilajulu. Der stellvertretende Direktor des staatlichen kardiologischen Instituts in Almaty war einer der Ersten, die sich nach der Unabhängigkeit Kasachstans für die Strahlenerkrankung der Tschernobyl-Veteranen in im Land interessierte. Er setzte sich dafür ein, dass in der staatlichen Klinik für Kriegsveteranen in Almaty 1994 eine Abteilung zur Behandlung von Strahlenkrankheiten eingerichtet wurde.  

Wie Esenbajew wurden bis zu 36.000 Menschen aus der ehemaligen UdSSR in Zentralasien zu den Arbeiten an dem Reaktor und zu seiner Absicherung abkommandiert. "Man hat vor allem aus Kasachstan die Menschen herangezogen", sagt Abilajulu. In Moskau habe es die Theorie gegeben, aufgrund der erhöhten natürlichen Radioaktivität in Kasachstan verfügten die dortigen Bewohner über eine gewisse Immunität. "Kompletter Unsinn", sagt Abilajulu. "Bis heute sind von diesen Männern etwa nur noch 7.000 am Leben." Da über die Mortalität der kasachischen Tschernobyl-Veteranen Statistiken fehlen, beruft er sich auf Erfahrungswerte, wobei die genannte Ziffer etwa der Zahl der in Kasachstan noch registrierten Tschernobyl-Veteranen entspricht.  

Diese Todeszahl wird von dem kasachischen Gesundheitsministerium jedoch nicht bestätigt - und für viel so hoch gehalten. Genaue Statistiken über das weitere Schicksal der Tschernobyl-Veteranen sind nicht geführt worden.  

Direkt nach dem GAU wurden alle eingezogen, die irgendwie greifbar erschienen, darunter viele junge Rekruten. Später ging man dazu über, in das verstrahlte Gebiet nur Männer zu schicken, die bereits schon zwei Kinder gezeugt hatten. "Man wollte so verhindern, dass die genetische Struktur der Bevölkerung Schaden nehme", erklärt Abilajulu. Esenbajew war schon vor seinem Einsatz verheiratet und hatte drei Kinder.  

Bis heute verfüge man, so Abilajulu, mit dem Krankenhaus in der kasachischen Hauptstadt Astana über 160 Behandlungsplätze. Das sind viel zu wenig, rechnet man zu den 7.000 lebenden Tschernobyl-Veteranen noch die zwei Millionen Menschen, die wegen der Atomversuche auf dem einstigen Testgelände in Semipalatinsk auch Symptome der Strahlenkrankheit aufweisen.  

"Die kasachischen Opfer der Tschernobyl-Katastrophe wurden vollkommen vergessen", sagt Abilajulu. Bisher interessiere sich keine internationale Organisation für das Schicksal der Menschen. Die einzige Hilfe kam von der japanischen Regierung, die den Ausbau der Klinik finanziell ermöglichte.  

Die Tschernobyl-Veteranen in Kasachstan fühlen sich von der kasachischen Regierung im Stich gelassen. Auf einer Pressekonferenz in Almaty beschweren sich die ordenbehangenen Veteranen, dass ihnen vom Staat die Vergünstigungen gestrichen seien und dass es keine ausreichende medizinische Versorgung gäbe. "Man wartet einfach, bis wir alle gestorben sind", sagt einer.  

taz vom 22.4.2006, S. 8, 117 Z. (TAZ-Bericht), MARCUS BENSMANN

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 7

Deutsch-französische Initiative

Tschernobyl und seine gesundheitlichen Folgen: erhöhte Säuglingssterblichkeit, zunehmend Neugeborene mit Fehlbildungen, sprunghafter Anstieg der Krebsraten. Nach den Daten der Deutsch-Französischen Initiative für Tschernobyl (DFI) gibt es keinen Nachweis dafür, dass die Bevölkerung in den radioaktiv hoch belasteten Regionen in der Ukraine, Weißrussland sowie Russland vermehrt unter derartigen Krankheiten leidet.

  Das vom deutschen und vom französischen Umweltministerium 1996 initiierte Projekt hat alle verfügbaren Studien über die Folgen des Reaktorunglücks ausgewertet und auch neue Forschungsprojekte koordiniert. Gestern präsentierte die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die die Initiative koordiniert, auf der Wissenschaftspressekonferenz in Bonn ihre neuesten Veröffentlichungen. Demnach zeigen die epidemiologischen Daten in den hoch belasteten Zonen lediglich bei Schilddrüsenkrebs einen signifikanten Anstieg. Betroffen sind vor allem Kinder, die "zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls jünger als zehn Jahre alt waren", heißt es in der "Studie über Gesundheitseffekte".  

Auslöser von Schilddrüsenkrebs ist das während der ersten Monate nach dem Unfall aufgenommene Jod-131, das eine Halbwertszeit von nur acht Tagen hat. Da das erhöhte Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, lebenslang bestehen bleibt, ist auch künftig mit einer weiteren Zunahme der Krebsfälle zu rechnen.  

Bei allen anderen Krebsarten gibt es nach den Daten der DFI keine "signifikanten Unterschiede" zwischen den Bewohnern der radioaktiv kontaminierten und denen der unbelasteten Zonen. Das gilt nach Meinung der DFI auch für andere Erkrankungen, die immer wieder im Zusammenhang mit Tschernobyl erwähnt werden. Zu Leukämie etwa heißt es in dem DIF-Bericht: "Die Anzahl der Fälle, die möglicherweise durch die Bestrahlung nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl induziert sein könnten, ist unbedeutend im Vergleich zu den spontanen Indizien." WLF  

taz vom 22.4.2006, S. 8, 55 Z. (TAZ-Bericht), WLF

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 8

Falloutforscher mit Pinzette

Im Nieselregen suchte der Jagdfunktionär Bernd Stegmaier im Frühjahr 1986 nach der Schilddrüse eines Rehs. Später fragte er sich, warum es so viel Tierfutter mit Wild zu kaufen gab

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Bernd Stegmaier war einmal ein junger, forscher Jägersmann in Bayern. Dann kam die Tschernobyl-Wolke auch über sein Wild. Und der heute 55-Jährige, damals zudem Pressesprecher des Bayerischen Jagdverbandes und Berater des Bundesverbandes, sah sich mit Fragen bombardiert. "Alle wollten wissen, ob der Fallout auch unsere Viecher betrifft." Denn die Jagdzeit für Rehböcke stand vor der Tür. "Da fiebern alle immer drauflos. Das wäre am 15. Mai gewesen." Es begannen abenteuerliche Tage. "Erst", sagt er im tiefen Münchnerisch, "verlegte das Landwirtschaftsministerium den Beginn der Saison schnell auf den 1. Juni." Zeit gewinnen.

"Währenddessen trat abends ein dickbramsiger Innenminister vor die Kameras und verkündete: Deutschland ist sicher. Da passiert nix." Neben diesem Friedrich Zimmermann vertilgten andere Politiker öffentlich Wildbret, "so als vertrauensbildende Essmaßnahme". Es nutzte wenig: Die Bevölkerung wollte keinen Pilz mehr essen, kein Tier aus dem strahlenden Wald.

"Der Druck war groß, der Markt für Wild binnen weniger Tage kaputt. Der Preis hatte sich schon Anfang Mai halbiert." Jäger sind verantwortlich für die Tiere, die sie in den Verkehr bringen. Aber sie können Strahlenbelastung nicht beurteilen. "Deshalb waren wir als Verband so wichtig, auch juristisch." Die Jagdfunktionäre ergriffen die Initiative. "Drei Tage nach der Wolke sind wir mit Ausnahmegenehmigung in den Wald und haben in der Dämmerung ein Stück Rehwild geschossen", erzählt Stegmaier. "Zu Testzwecken." Aber darüber sprechen die Männer nicht gern. Mit Handschuhen und Operationsbesteck, unter Leitung eines Tierarztes, zerlegten sie, mittlerweile im Dunkeln und im Nieselregen, das Tier, um Fleischstücke zu gewinnen, die durch Äsung Radioaktivität aufgenommen hatten. "Das mussten wir ja alles auch erst lernen. Wir kamen ja auch dazu wie die Jungfrau zum Kind." Stegmaier berichtet: "Wir wollten die Schilddrüse als Indikator, weil sich da das radioaktive Jod einlagert, und alle davor solche Angst hatten damals. Nur, das wusste auch der Tierarzt nicht, wo die liegt beim Reh. Da stehste dann im Regen, links die Taschenlampe, rechts ein Messer, schneidest den Hals hoch und darfst dich nicht am Fell kontaminieren. Aus Selbstschutz. Und damit die Ergebnisse nicht verfälscht werden. Mit Pinzette haben wir dann hinterm Schlund so ein knapp linsengroßes, blaßrosanes Dingchen gefunden, von eineinhalb Gramm Gewicht." Mit dem Material sind die Männer in ein Labor gefahren. "Abends nach 11 kamen wir an. Da wartete schon einer mit dem Reagenzglas in der Hand." Dann wurde gemessen. "Heraus kamen astronomische, gigantische Größen - vor allem bei der Schilddrüse." Egal: "Das wurde runtergerechnet auf Kilobelastung. Grenzwerte waren ja völlig beliebig."

Stegmaier lernte von Experten: "Jeder Kontakt mit einem verstrahlten Lebensmittel kann Krebs auslösend sein, egal wie klein. Jedes falsche Becquerel kann dich killen." Behörden schickten derweil beruhigende Rundschreiben ins Land. Jeder esse doch eh nur 0,9 Kilogramm Wild im Jahr. Also sei "alles halb so wild mit dem Wild. Und manche Köche sagten: Wenn man Wildfleisch nur lange genug beizt, schwemmt das auch die Becquerels raus." Stegmaier gab die Mess-Ergebnisse weiter: "Wir haben den Jägern gesagt: Zieht eure eigenen Schlüsse." Das war ein Freifahrtschein. Kein Wunder, dass er heute "das ungute Gefühl hat, dass wir alle alles sehr verharmlost haben. Ich war Sprecher meiner Herrn. Wir haben versucht, nichts zu verschleiern. Aber eigentlich waren wir völlig überfordert." Tiefkühlketten, erinnert sich Stegmaier, hätten damals "Unmengen Wild zu Spottpreisen aufgekauft".

Zehn Jahre später, beim Einkauf für seinen Terrier Timmy, ist ihm aufgefallen: "Was es auf einmal an Wild in Tiernahrung gab! Wild mit Huhn, Wild mit Rind, Wild mit Wild." Sein Verdacht: "All das Zeug von damals wurde Stück für Stück der Tiernahrung beigemischt und vielleicht bis heute verkauft."

Auch in die Nahrung für Menschen? Stegmaier zuckt die Schultern. "30.000 Rehe pro Jahr müssen irgendwo geblieben sein." Für sich hat Stegmaier sofort Schlüsse gezogen. "Lange habe ich keine Milch getrunken. Bis heute ess ich keine Pilze." Und Wild? "Fast nie." Stegmaier weiß, wenn er doch mal schwach wurde: "Auch das menschliche Gedächtnis hat seine Halbwertszeit." Bald nach Tschernobyl ist Stegmaier "auch aus der Jagerei ausgestiegen". Und wenn er, wie neulich per Schiff auf der Rhone, "an einem AKW vorbeikommt, denk ich immer: Fahr schneller, Kapitän. Nicht dass jetzt gerade ein Leck auftritt." Heute ist Stegmaier Chefredakteur einer Golfzeitschrift. "Ich sehe die Viecher immer noch gern an. Aber ich niete sie nicht mehr um - es sei denn eines würde sich mal beim Golf meinem Abschlag in den Weg stellen." taz vom 22.4.2006, S. 9, 144 Z. (TAZ-Bericht), BERND MÜLLENDER

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Kapitel 3: Tschernobyl in Deutschland

Ein französischer Physiker kam 1986 zu ungeahnter Berühmtheit: Henri Becquerel, der Entdecker der Radioaktivität. Die nach ihm benannte Einheit bestimmte über Monate das Leben in der BRD: Wie stark strahlt die Milch, wie stark der Salat? Die Atompropaganda ging im Knattern der Geigerzähler unter. Heute hofft die Atomlobby auf das Vergessen.

taz vom 22.4.2006, S. 9, 15 Z. (TAZ-Bericht)

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"die tageszeitung", 22.4.2006

das taz-dossier 9

Dann kam die Wut

Frauen nahmen den Atom-GAU anders wahr als Männer, sagt Soziologin Irmgard Schultz

Interview HEIDE OESTREICH  

taz: Frau Schultz, in den Protestveranstaltungen nach Tschernobyl traten massiv Frauen und Mütter auf. Noch 1987 wurden 1.500 Frauengruppen gegen Atomkraft in Deutschland gezählt. Sie haben damals AktivistInnen in Hessen befragt. Hatten Männer keine Angst vor verseuchter Milch?  

Irmgard Schultz: Die Männer hatten sicher ebenfalls Angst. Allerdings haben vor allem Frauen ihre Betroffenheit laut artikuliert. Dann kam dazu die Wut, als Frauen - als Eltern - Folgen einer unverantwortlichen Energiepolitik bewältigen zu sollen. Daher auch der Slogan "Früher Trümmerfrauen - Heute Strahlenfrauen".  

Die Politik hat vor allem mit Beschwichtigungen reagiert. Gab es tatsächlich so etwas wie Desinformation?  

Das Krisenmanagement lag bei den Bundesländern. Die haben völlig unterschiedliche Grenzwerte kommuniziert, etwa für die Belastung der Milch. Das war verwirrend und unglaubwürdig. In Hessen wollten Mütter- und Elterninitiativen, dass das verstrahlte Gras wie in Schweden als Sondermüll gelagert wird. Stattdessen wurde kontaminiertes Gras mit unverstrahltem gemischt, um die Grenzwerte einzuhalten. Die Initiativen kritisierten, dass sich diese Grenzwerte an gesunden erwachsenen Männern orientieren, die natürlich auch nicht schwanger sind. Dann wurde aber bekannt, dass die Strahlung Embryonen besonders schädige. Und es gab in der Tat Frauen, die aus Angst abgetrieben haben.  

Die Frauen hätten hysterisch reagiert, hieß es oft. Waren sie hysterisch?  

Das ist der zentrale Begriff, mit dem speziell Frauen in der Geschichte als nicht ganz normal abstempelt wurden. Der Begriff dient zur Denunziation von Frauen, nur von Frauen. Den sollten wir streichen. Die Frauen haben Emotionen ausgedrückt, was im öffentlichen Raum verpönt ist. Klar gab es Abwehrreaktionen.  

Frauen stehen laut Umfragen Risikotechnologien generell skeptischer gegenüber als Männer. Verdrängen Männer mögliche Folgen nur besser, weil sie weniger konkret damit befasst sind?  

Sie sind auch konkret damit befasst, reagieren aber überwiegend anders. Eine Studie über das Risikoverhalten nach Lebensmittelvergiftungen zeigt, dass auch junge Frauen, die noch wenig mit Haushalt und Familie zu tun haben, ein anderes Risikobewusstsein haben als Männer. Sie vergrößern das Risiko eher und versuchen es dann zu vermeiden, während die Männer, die ebenfalls eine Lebensmittelvergiftung erlebt hatten, mögliche Ernährungsrisiken bagatellisieren. Das ist im Straßenverkehr ähnlich. Das scheint tatsächlich ein kultureller Geschlechtsunterschied zu sein.  

Ist es auch eine Machtfrage? Wer meint, er habe alles im Griff, hat vor den Folgen weniger Angst, als jemand, der wenig Einfluss ausüben kann und sich deshalb leichter ausgeliefert fühlt, oder?  

Auch dazu gibt es Forschungen. In den USA hat man festgestellt, dass die weißen Männer, die den meisten Einfluss haben, am wenigsten risikosensibel waren. Weiße Frauen und schwarze Männer waren ungefähr auf einer Stufe, und am vorsichtigsten waren die schwarzen Frauen. Dies wird daraus erklärt, dass die schwarzen Frauen am wenigsten das Gefühl haben, etwas am Risiko ändern zu können. Wichtig ist also die Gestaltungsmacht und der Zugang zu Ressourcen, beispielsweise zur Mobilität. Nach der Tschernobyl-Katastrophe haben sich Wohlhabende zum Teil mit ihren Kindern auf wenig kontaminierte Inseln in Sicherheit gebracht und dort einige Wochen abgewartet.  

Haben die Mütter gegen Atomkraft etwas im Umgang mit Risikotechnologien verändert?  

Unter anderem haben sie natürlich den Atomausstieg mit vorbereitet. Aber die stärksten Wirkungen hatte Tschernobyl wohl in der Wissenschaft. Man hat das Konzept der vulnerablen Gruppen weiterentwickelt. Das heißt, dass man für verschiedene Risikogruppen wie etwa Schwangere, Kinder und Kranke differenzierte Krisenmanagement-Strategien entwickelt und auch im Hinblick auf "soziale Empfindlichkeit".  

Das ist schon in den Katastrophenplänen der Landesregierungen berücksichtigt?  

Das weiß ich nicht. Aber in der Öffentlichkeit tut sich etwas. Nehmen Sie das Beispiel des Hurrikans über New Orleans. Im amerikanischen Fernsehen wurde skandalisiert, dass das Krisenmanagement überhaupt nicht an soziale Unterschiede gedacht hatte und dann Tausende von Menschen im Stich ließ. Mit so einer Blindheit gegenüber diesen Faktoren kommt man heute nicht mehr durch.  

taz vom 22.4.2006, S. 10, 126 Z. (Interview), HEIDE OESTREICH

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das taz-dossier 9  

IRMGARD SCHULTZ vom Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt am Main hat 1987 in der Studie "Die Folgen von Tschernobyl" Frauen in hessischen Umweltinitiativen befragt.  

taz vom 22.4.2006, S. 10, 8 Z. (Portrait)

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0160.1/text

Die Becquerel-Bewegung

Tschernobyl war eine Bestätigung aller Befürchtungen. Die Anti-Atom-Bewegung hat den Sprung ins Bürgertum allerdings nicht geschafft

BERLIN taz Der Fallout von Tschernobyl ging nieder und alle Linken, alle Ökos sahen ihre Befürchtungen bestätigt: Atomkraft ist nicht sicher, die Regierung wird alles vertuschen. Tatsächlich reagierten deutsche Behörden in Atomsachen zögerlich, obwohl angesichts der radioaktiven Wolken schnelle Aufklärung Not getan hätte. Vor allem in Bayern ging Regen aus der Ukraine nieder, die Belastungen von Wald und Flur lagen weiträumig jenseits der Grenzwerte. Die CSU-Landräte wollten aber ihre Bauern schützen, erklärten Milch und Essen für unbedenklich. Als sich das als Lüge herausstellte und unabhängige Messstationen und -vereine entstanden, glaubte niemand mehr offiziellen Versionen. 

Die Leute nahmen die Sache selbst in die Hand. Wer weiß es noch: Becquerel (Zerfälle pro Sekunde, auch in Curie gemessen), Dosis (gemessen in Röntgen oder Gray) und das eigentlich Wichtigste, die Äquivalenzdosis - das, was die verschiedenen Strahlungsarten im Körper anrichten (heute in Sievert, früher in Rem, "Röntgen equivalent man"). Damals Tagesgespräch in manchen Kreisen. Die Anti-Atom-Bewegung jedoch, wie bei linken Bewegungen in Deutschland üblich, debattierte lieber als sich mit Meßdaten aufzuhalten: Schließlich ging es um den Kampf gegen das System, gegen die Konzerne. Es galt, weitere AKWs im Land zu verhindern; mit Blockaden, mit Rütteln an Bauzäunen. 

Angst herrschte natürlich auch im konservativen Lager und bei den Kirchen. Linke Militanz und die bürgerliche Angst vertrugen sich allerdings schlecht. Schon Ende 1986 fragte die taz anlässlich einer Anti-Atom-Konferenz: "Warum hat man es nicht geschafft, die sogenannte Becquerel-Bewegung - also all die Eltern-, Mütter- und Verbraucherinitiativen - in den Anti-Atom-Protest zu integrieren?" Als Gründe wurde neben einer fehlenden bundesweiten Organsiationsstruktur auch die Verliebtheit in die Militanz genannt. Die Bewegung erreichte jedenfalls nie die Breite, die sie vereint mit dem bürgerlichen Lager hätte haben können. 

Noch heute ist bei Wild und Pilzen vor allem in Bayern Vorsicht geboten: Noch immer werden teilweise überhöhte Becquerel-Werte gemessen, laut der Stiftung Warentest immer noch über 1.000 Becqurel bei Pilzen aus dem Münchner Umland. Die BI um die Ecke gibt es längst nicht mehr. Wer misstrauisch ist, kann sich aber beim Umweltinstitut München informieren. REM 

www.umweltinstitut.org 

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taz vom 22.4.2006, S. 10, 67 Z. (TAZ-Bericht), REM 

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0158.1/text 

das taz-dossier 9

Bücher, Events, Demos

Informationen, Protestmärsche und Veranstaltungen zum Thema Atomenergie, Strahlenschutz und Tschernobyl: eine Auswahl

Literatur:

"20 Jahre nach Tschernobyl. Eine Bilanz aus Sicht des Strahlenschutzes", Prof. Dr. Wolfgang-Ulrich Müller (Vorsitzender der Strahlenschutzkommission), Bonn 2006 

"Mythos Atomkraft. Ein Wegweiser", Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Berlin 2006 

"Tschernobyl. Vermächtnis und Verpflichtung", Jahrgangsheft Osteuropa, Berlin 2006 

"Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft", Swetlana Alexijewitsch, Berlin

2006 Veranstaltungen:

 20.-23. 4., Berlin, Youth Energie Summit 06, Jugendkonferenz für Erneuerbare Energien (www.yes06.de) 

23. 4., München, "Tschernobyl - nie wieder", Benefizveranstaltung für die Kinder von Tschernobyl, 11 Uhr Altes Rathaus Marienplatz, München, Eintritt 15/ermäßigt 10 Euro 

25. 4-5. 6., Potsdam, Ausstellung "strahlenORTE" von russischen und weißrussischen Künstlern, Truman-Haus, Karl-Marx-Str. 1, Eintritt frei 

Demonstrationen

22. 4. Grenzüberschreitender Protestmarsch gegen die Urananreicherung, 11.30 Uhr Innenstadt Gronau, 14 Uhr Almelo (Niederlande) 

23. 4 "Zwanzig Jahre nach Tschernobyl - Atomausstieg jetzt - Umsteigen auf regenerative Energien". Neckarwestheim, 13.30 Uhr, Kirchheim am Neckar, Bahnhofsvorplatz, neckarwestheim.antiatom.de/ts20 

24. 4., "Nie wieder Tschernobyl - Vattenfall raus aus der Atomkraft", Vattenfall Europe, Chausseestr. 23, Berlin, Veranstalter ist der BUND 

26. 4., "Tschernobyl: Erinnern für die Zukunft", 17 Uhr Neuenkirchen, Veranstalter: Kinder für Tschernobyl e. V. 

26. 4., Demo um 5 nach 12, am Lindenplatz in Hamburg (www.nadir.org) 

29. 4., Demo für den sofortigen Atomausstieg, 12 Uhr Bahnhof Ahaus 

Im World Wide Web: 

www.gfstrahlenschutz.de 

www.tschernobyl-folgen.de 

www.tschernobyl2006.de 

www.ssk.de 

www.friedenskooperative.de/tscherno.htm 

Spendenkonten: 

Solidaritätsdienst international e. V., Ferienaufenthalte für Strahlengeschädigte Kinder; Kontonummer 4 385 205 000, Berliner Bank: "Tschernobyl-Kinder" 

Kinder von Tschernobyl Neuenkirchen e. V.; Kreisparkasse OHZ, Kontonummer 191 817 

taz vom 22.4.2006, S. 10, 67 Z. (TAZ-Bericht)-------------------------------------------------------------------

"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 10

Was halten Sie von Atomkraft?

Mit Angela Merkel wurde nicht nur die erste Frau zur Kanzlerin gewählt. Sondern auch die Renaissance der Atomkraft. Nachfolgend Argumente und Fakten

VON UNSEREN KORRESPONDENTEN

 1. Atomkraft in Deutschland ist sicher 

Es gab auch hierzulande diverse Störfälle und Bedienungsfehler. Eine kleine Auswahl: Im Oktober 2001 wurde bekannt, dass über Jahre hinweg in den AKW Philippsburg, Obrigheim und Neckarwestheim zu wenig Borwasser in den Notkühlsystemen gespeichert war. Das Notsystem war damit nicht voll funktionsfähig. 

Im schwäbischen AKW Neckarwestheim fehlten im März 2004 an 16 Pumpen und Pumpenmotoren Schrauben und Befestigungsstifte. Als der AKW-Chef mit seinem obersten Vorsitzenden über das Sicherheitsgebaren im Konzerns sprach, wurde er entlassen. 

Die hessischen AKW Biblis A und B verfügen über keine verbunkerte Notstandswarte. Bei einem ernsten Störfall in einem der beiden Reaktoren könne die gesamte Atomanlage von außen nicht mehr abgeschaltet werden, so Experten. Die erleuchteten Reaktorblöcke dienen in der Nacht US-Army-Hubschraubern als Orientierungspunkt, obgleich Biblis A wegen seiner nur 60 Zentimeter dicken Betonhülle nur den Absturz eines Sportflugzeugs überstünde. Risse in Schweißnähten bleiben überall unentdeckt, in Biblis in einem Fall sogar 27 Jahre. 

Brunsbüttel an der Elbe überstand im Dezember 2001 eine Knallgasexplosion. Der Störfall ereignete sich nur wenige Meter entfernt vom Reaktordruckbehälter, der Reaktor wurde weiter am Netz gelassen. "Es war nur glücklichen Umständen zu verdanken, dass damals kein schwerer Unfall ausgelöst wurde", so der Reaktorexperte Helmut Hirsch. 

Nach der deutschen Risikostudie der nicht atomkritischen Gesellschaft für Reaktorsicherheit von 1989 liegt die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall für die 17 deutschen Reaktoren bei einem Berieb von 30 Jahren bei zwei Prozent - ohne Berücksichtigung von Sabotage oder Bedienungsfehlern. 

2. Atomkraft ist sauber 

Auch im Normalbetrieb stößt ein Reaktor Radioaktivität aus. Noch mehr der restliche Brennstoffkreislauf - vor allem die Uranförderung und die Wiederaufarbeitung. Jedes Jahr fällt in deutschen AKW mehr Atommüll an, als in Tschernobyl freigesetzt wurde. Uran und Plutomium sind auch chemisch hoch giftig. 

3. Atomkraft hilft dem Klima 

Tatsächlich erzeugen Atomkraftwerke nur wenig Kohlendioxid. Um den Ausstoß des Klimakillers radikal zu stutzen, empfehlen Energiemanager und Politiker neue Atomkraftwerke. Eine Milchmädchenrechnung: Fundamentale CO2-Reduktionen lassen sich eher gegen als mit der Atomkraft umsetzen. Weil erstens jedes AKW mehrere Milliarden kostet. 2030 werde deshalb der Anteil des Atomstromes weltweit bei 9 Prozent liegen, so die Internationale Atomenergiebehörde, der regenerativ gewonnene aber bei etwa 30 Prozent. Zweitens wird die Menschheit das Klimaproblem nur durch den Zwang einer Neuorientierung in Griff bekommen: Weg von Großtechnologien, hin zu dezentralen Strukturen und vor allem zum Energiesparen. Wollte man drittens Mitte des Jahrhunderts 20 Prozent Kohlendioxid durch Atomkraft einsparen, müssten ab 2010 nach allen fundierten Berechnungen 200 Meiler binnen 10 Jahren ans Netz gehen - alle 18 Tage einer. 

4. Atommüll lässt sich sicher lagern 

Behaupten zumindest AKW-Betreiber und Politiker. Die Realität sieht anders aus. In Deutschland gibt es schon zwei errichtete Atommüllendlager: Ins ehemalige Salzbergwerk Asse II bei Wolfenbüttel wurden bis 1978 rund 125.000 Fass schwach- und 1.300 Fass mittelaktive Abfälle eingelagert. Heute sickern in das einstige Versuchsendlager täglich gut 10 Kubikmeter Flüssigkeit ein. Damit der Schacht nicht einstürzt, werden seine Hohlräume gegenwärtig mit Abraumsalz gefüllt. 

Das zweite bestehende Endlager ist die ehemalige Kaligrube Morsleben in Sachsen-Anhalt. 37.000 Kubikmeter Atommüll und 6.600 Strahlenquellen lagerten zuerst die DDR und dann die neue Bundesrepublik ein. Seit 2002 wird der einsturzbedrohte Zentralteil im Zuge einer "Maßnahme der Gefahrenabwehr" mit Versatzmaterial gefüllt. 

Bei künftigen Endlagern ist von dauerhaftem sicherem Einschluss des Atommülls ohnehin nicht mehr die Rede. Die ehemalige Eisenerzgrube Schacht Konrad würde sich nach dem Einlagerungsbetrieb langsam mit Wasser füllen, und das strahlende Inventar würde sich später langsam im Untergrund ausbreiten. Die Konrad-Genehmigung vertraut allein auf Modellrechnungen, die auf vielen durchaus zweifelhaften Annahmen beruhen und nach denen am Ende an der Erdoberfläche die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung nicht überschritten werden. Auch für den Salzstock Gorleben ist längst ausgemacht, dass an die Stelle undurchlässiger geologischer Barrieren Ausbreitungsrechnungen treten müssten. 

5. Atomstrom ist billig 

Das stimmt - wenn das AKW bereits gebaut ist und nur die Betriebskosten gerechnet werden. Doch sowohl Bau als auch Abriss kosten jeweils mehrere Milliarden etwa für einen 1.000-Megawatt-Block (genaue Schätzungen sind schwierig, siehe zum Beispiel das Buch "Mythos Atomkraft"). In Zeiten von 15 Prozent Kapitalrendite bedeutet dies das Aus für AKW. Die Schäden im Fall eines Super-GAU mit großen Mengen frei werdender Radioaktivität liegen sowieso jenseits allen Vermögens. Außerdem bedingen die großen Blöcke hohe Reservekapazitäten für den Fall eines Ausfalls, nebst leistungsfähigen Hochspannungsnetzen. 

6. Atomkraftwerke lassen sich gegen Terroristen schützen 

Das stimmt. Die oberste Sicherheitsbehörde in Deutschland, das Bundesumweltministerium, hat nach den Anschlägen auf das World Trade Center zumindest selbiges behauptet. Grundlage ist eine unter Verschluss gehaltene Studie, die Luftballons, Nebelwerfer und Zäune gegen Kamikazeflieger vorschlägt (mehr dazu: Seite 24). 

7. Die Katastrophe von Tschernobyl ist ein singuläres Ereignis 

Gern, häufig, überzeugt wird behauptet, dass sich der Super-GAU von Tschernobyl nicht wiederholen kann. Begründet wird dies mit der "russischen Technologie", die damals quasi prädestiniert für Havarien gewesen sei. Tatsache ist, dass der Block 4 ein so genannter RBMK-Reaktor war, mit gravierenden bauartbedingten Mängeln. Wo immer Reaktoren dieses Typs liefen, wurden sie nach dem Unfall umfangreich nachgerüstet. 

Tatsache ist aber auch, dass nicht der Reaktor, sondern Bedienfehler der Mannschaft zum Unfall führten. Der Faktor Mensch: Es gibt bislang kein technisches oder technologisches System, dass fehlerquellenfrei arbeiten kann - zumindest die Systeme, in denen handelnde Menschen integriert sind. Es gibt weltweit viele Beispiel für solche Unfälle in Atomanlagen, in Europa zuletzt Paks: Am 10. April 2003 schrammte das ungarische AKW nur knapp an einer Katastrophe vorbei. Schlampige Überwachung, stressbedingte Fehleinschätzung und ein naives Vertrauen in eine hochsensible Technik führten zur Überhitzung einer Anlage und zur Evakuierung des dortigen Blocks 2. Die Radioaktivität wurde ins Freie abgelassen.Die Wiener Umweltstaatsanwaltschaft konstatierte später: "Die Mehrzahl der 30 Brennelemente im Abklingbecken wurden durch mangelnde Kühlung überhitzt und stark beschädigt beziehungsweise angeschmolzen." Reaktorphysiker aus dem In- und Ausland erkannten später entsetzt, dass eine atomare Verpuffung - also eine unkontrollierbare Kettenreaktion - im Bereich des Möglichen lag. Zwar nahm fast niemand den Störfall zur Kenntnis. Die mit der Untersuchung betraute Wiener Staatsanwaltschaft urteilte aber: "Dieser Störfall zeigt neuerlich, dass die Gewinnung von Kernenergie eine Risikotechnologie ist, bei der es immer zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen kann". 

JÜRGEN VOGES

KLAUS-PETER KLINGELSCHMIDT

KLAUS WITTMANN

NICK REIMER

REINER METZGER 

taz vom 22.4.2006, S. 11, 219 Z. (TAZ-Bericht), JÜRGEN VOGES / KLAUS-PETER KLINGELSCHMIDT / KLAUS WITTMANN / NICK REIMER / REINER METZGER

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 11

Der Sarg ist undicht

Wie viel Kernbrennstoff sich noch in dem Havariereaktor befindet, ist unklar. Klar ist, dass Wasser hineinläuft

 AUS TSCHERNOBYL NICK REIMER

 Der Blick von Julias Arbeitsplatz ist wirklich exklusiv: 50 Meter Luftlinie bis zum Havarieblock 4. "Die beiden Dachträger sind nicht sehr stabil: Sie liegen einfach nur oben drauf", sagt Julia Konstantinowa Marusitsch, Führerin des "Dokumentationszentrums Sarkophag". Man müsse das verstehen: 90.000 Leute haben unter extremsten Belastungen in nur 206 Tagen die Außenhaut gebaut. Da lief manches nicht ganz so wie gewünscht. 

50 Meter Luftlinie bis zu dem havarierten Reaktor. Wie gefährlich ist das Ding? Kann er zusammenbrechen? Und vor allem: Wie viel Kernbrennstoff schlummert noch unter der Haut? Fast nichts, sagt die eine Wissenschaftsmeinung - fast alles, die andere. Dabei ist dieser Punkt zentral: Von der Menge des noch verbliebenen Kernbrennstoffs hängt ab, ob, wie und wie schnell eine zweite Haut um den Reaktor gebaut werden muss. 

Ursprünglich war der Sarkophag für 30 Jahre konzipiert. "Er hat den äußeren Einwirkungen der letzten 20 Jahre standgehalten", urteilt lapidar die deutsche Strahlenschutzkommission. Äußere Einwirkungen waren beispielsweise Erdbeben. Im Mai 1990 wurden etwa 6,8 und 6,3 auf der Richterskala gemessen, das Epizentrum lag am Karpatenrand. 

Der Sarkophag, ein Bauwerk in der Form eines R, so hoch wie ein 20-stöckiges Haus. In Inneren verbergen sich in absoluter Dunkelheit etwa 1.000 Räume, viele davon vollkommen zerstört. "Beim Bau musste in Kauf genommen werden, dass die alten Stützenkonstruktionen nicht zuverlässig waren", sagt Alexander Borowoi vom russischen Kurtschatow-Institut. Dieses war früher das Zentralhirn der sowjetischen Atomindustrie, Borowoi ist auch der IAEA-Experte für Strahlungshavarien. "Die Explosion und der Brand hat das Material ja stark angegriffen. Ihre wirkliche Festigkeit konnte wegen der gewaltigen Strahlungsfelder aber nicht überprüft werden", so der Experte. Informationen über den Zustand wurden ausschließlich von Fotos gewonnen. Die wurden vom Hubschrauber aus gemacht. 

"Acht Risikogebiete sind in der Sarkophaghaut lokalisiert", erklärt Julia Konstantinowa. Mikrorisse etwa, Materialverschiebungen, Wasser. Die Hülle ist nicht wirklich hermetisch, jährlich gelangen bis zu 2.000 Kubikmeter Regen- und Tauwasser durch die Ritzen in den Reaktor. Seit November wird an den ersten Stellen gearbeitet. "Es geht aber nur langsam voran: Die Leute dürfen immer nur für zwei Minuten arbeiten." Die Strahlung ist einfach zu hoch: Unter der Hülle gibt es Stellen, wo Strahlenleistungen von 20 Sievers pro Stunde gemessen werden. Schon 2 Sievers sind tödlich. Zum Vergleich: In Berlin werden beispielsweise 1 Microsievert registriert - 20 Millionen Mal weniger. 

Zwar bescheinigen auch westliche Fachleute den Sarkophagerbauern ingenieurtechnische Standards. Allerdings mussten die Bauteile wegen der extremen Strahlung vielfach per Roboter montiert werden - was vor 20 Jahren noch eine enorme Herausforderung an die Präzision bedeutete. Wesentliche Bauteile konnten so weder verschraubt noch verschweißt werden, sie sind einfach nur aufeinander gestapelt. Wie lange kann das noch halten? Semen Michailowitsch Stein, Sprecher des Kraftwerks jedenfalls sagt: "Als Betreiber können wir die Stabilität nicht mehr garantieren". 

Es war die deutsche Umweltministerin Angela Merkel, die mit ihrer französischen Kollegin auf Bitte der Ukraine 1996 die so genannte deutsch-französische Initiative startete. Zwar war in den ersten zehn Jahren nach dem GAU massenhaft in und um den havarierten Reaktor geforscht worden. Um Daten und Ergebnisse in Zusammenhang zu setzen, fehlte es aber an Geld. 

Auftrag eins der deutsch-französischen Initiative lautete deshalb: "Sicherheitszustand des Sarkophags". Die gestern von der deutschen Strahlenschutzkommission dokumentierten Untersuchungen ergaben, dass noch 180 Tonnen Kernbrennstoff im Reaktor sind. Sehr detailliert aufgeschlüsselt, haben die Forscher brennstoffhaltigen Staub, Kernbrennstofflava oder in Wasser gelöste Uransalze aufgeschlüsselt: 6 Tonnen in Raum 304/3, etwa 14,8 Tonnen im südlichen Abklingbecken, 0,4 Tonnen in Raum 217/2. 

Alles Quatsch, behauptet dagegen die Deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz: Nicht mal mehr 10 Tonnen seien in dem Reaktor. Die übertriebene Darstellung des kerntechnischen Inventars sei nur ein "Plan zum Gelddrucken". Sebastian Pflugbeil, Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz: "Würde der Sarkophag einstürzen, wird zwar eine radioaktive Staubwolke frei. Die aber bliebe auf das Gebiet des Kraftwerkes beschränkt. Weder die Ukraine noch ein anderes europäisches Land würden davon etwas mitbekommen." 

Ukrainische Experten hatten mit internationalen Kollegen 1996 den "Shelter Implementations Plan" erarbeitet: eine bogenförmige Halle - 100 Meter hoch, Spannweite etwa 250 Meter - soll erstens den alten Sarkophag einschließen und zweitens in cirka 30 Jahren die Bergunng des radioaktiven Inventars ermöglichen. Dabei stützen sich die Experten auch auf sowjetische Daten: 190 Tonnen waren zum Zeitpunkt des Unglücks im Reaktor. Die bis zum 6. Mai 1986 frei gesetzten Kernbrennstoffanteile betragen 3,5 Prozent. Es hätte also alles noch viel schlimmer kommen können. 

Schlimmer geht nicht, sagt dagegen Konstantin Tschertscherow, einer der führenden russischen Atomphysiker: "95 Prozent des Kernbrennstoffes sind entwichen." Tschertscherow zählt zu den intimsten Kennern des Sarkophags: an die 1.000-mal ist er in seinem Inneren gewesen, dreimal war er bis in den Reaktorschacht vorgedrungen. Tschertscherows These: Der ganze Kern des Reaktors - ein riesiger Graphitblock, durchzogen von Röhren mit Brennelemente und Steuerstäben - ist beim GAU wie eine Rakete aus dem Reaktorschacht gezischt. Dabei hat der Kern so viel Kraft, dass er den 2.500 Tonnen schweren Reaktordeckel abhebt. 40 bis 50 Meter hoch schafft es der Reaktorkern, verdampfte dabei in der unvorstellbaren Hitze - und gelangte so in die Umwelt. 

taz vom 22.4.2006, S. 12, 171 Z. (TAZ-Bericht), NICK REIMER

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 12

Mär von der schönen neuen Reaktorwelt

Wie Atomtechniker mit visionären Atomreaktoren, die auch noch Wasserstoff generieren, Akzeptanz zuschaffen versuchen 

FREIBURG taz Es waren große Versprechungen, mit denen die Atomkraft vor 40 Jahren salonfähig gemachtwurde. Die Propagandisten ließen verbreiten, man werde künftig Energie im Überfluss haben; Stromzähler würden hinfällig. Das freilich entpuppte sich bald als Lobbyistenmär. 

Heute kann man mit solch platten Verheißungen nicht mehr punkten. Da müssen schon Visionen anderenKalibers her - und die aufzubauen, ist die Nuklearlobby derzeit bestrebt: Unter dem Namen "vierteGeneration" werden - etwa vom Atomkonzern Areva - Reaktoren angepriesen, die absolut sicher seinsollen. "Inhärent sicher", wie Techniker gerne sagen. Und nicht nur das. Die neuen Meiler sollenauch keinen langlebigen Strahlenmüll mehr absondern. Sie sollen zudem nebenbei Wasserstoffgenerieren, um auch den Verkehrssektor endlich mit Atomenergie zu beglücken. 

Schöne neue Reaktorwelt - fast so verlockend, wie damals der vermeintlich fast kostenlose Strom. InsLeben gerufen wurde das Projekt "Generation IV" im Jahr 2001 von den USA, neun weitere Staatenstießen bald hinzu. Da auch die EU mitmischt, sitzt letztendlich auch Deutschland über denEuratom-Vertrag mit im Boot. 

Im Raum stehen nun sechs Reaktorkonzepte, von denen zwei oder drei in den nächsten 20 bis 30 Jahrenso weit entwickelt werden sollen, dass sie als Prototypen gebaut werden können. Drei Versionen vonSchnellen Brütern sind darunter, die wahlweise mit Natrium, Blei oder Helium gekühlt werden. Überdie damit verbundene Plutoniumwirtschaft redet man allerdings nicht gerne. 

Weitere Typen sind ein Höchsttemperaturreaktor (VHTR), ein Leichtwasserreaktor (SCWR) und einSchmelzsalz-Reaktor (MSR). So nimmt die Forschung Anlauf, Technologien zu entwickeln, die in derVergangenheit schon furios gescheitert sind - wie zum Beispiel der Schnelle Brüter in Kalkar. 

Doch diesmal soll alles besser werden. Ein Erfolgsfaktor soll die kompakte Größe sein; Anlagen imLeistungsbereich von wenigen 100 Megawatt sollen entstehen. Die neuen Meiler würden derartkonstruiert sein, dass selbst im Falle eines Super-GAUs keine Radioaktivität ins Freie gelangenkann. Außerdem sollen sie um ein kerntechnisches Verfahren ergänzt werden, das sich Transmutationnennt: Langlebige radioaktive Stoffe sollen durch Neutronenbeschuss in kurzlebige umgewandeltwerden. "Maximal 300 Jahre" solle der Müll dann noch strahlen.

 Ob sich da nicht schon wieder jemand zu weit aus dem Fenster lehnt? Denn gerne verschweigt man, dassgerade die Leichtwasserreaktoren zur Transmutation nicht in der Lage sind. Das Deutsche Atomforum,die umtriebige PR-Plattform der Atomwirtschaft, gibt sich gleichwohl optimistisch. "Schon relativkonkret" seien die Pläne, heißt es. Zugleich gesteht man dann aber ein, dass ein großflächigerEinsatz der neuen Konzepte erst zur Mitte des Jahrhunderts möglich sein werde. 

Kritiker halten selbst das für fraglich. "Ob diese Reaktoren überhaupt möglich sind, ist nochstrittig", sagt Stephan Kurth vom Öko-Institut in Darmstadt. Denn die ganze Technik sei noch nichteinmal in der Theorie voll entwickelt. Die Visionen rund um die Transmutation hält Kurth für einen"Papiertiger". Denn die Praxistauglichkeit des Verfahrens sei höchst strittig. Schon allein derEnergiebedarf des Umwandlungsprozesses könnte so groß sein, dass er zum K.o.-Kriterium wird. Ohnehinsind die gesamten Kostenschätzungen zur "Generation IV" schwierig. Aus diesem Grund hört man bislangauch von Seiten der Stromversorger so gut wie gar nichts von den neuen Reaktoren. Es sind vielmehrdie Forschungslabors, die das Thema im Gespräch halten - der lukrativen Forschungsgelder wegen.

BERNWARD JANZING 

taz vom 22.4.2006, S. 13, 108 Z. (TAZ-Bericht), BERNWARD JANZING

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das taz-dossier 12

Kernverschmelzung

"Wendelstein 7-X" heißt die Anlage, in der in Vorpommern eine neue Form der Energieerzeugung, die Kernfusion, erprobt werden soll 

AUS GREIFSWALD NICK REIMER 

"Das Gute an dieser Technologie ist: Sie ist absolut sicher!" Rudolf Brakel erforscht Kernfusion amMax-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald. Und noch etwas ist für den Physiker absolutsicher: "Die Kernfusion liefert die Energieversorgung der Zukunft." 

Vor 50 Jahren waren sich die Atomforscher schon mal ganz sicher: Die friedliche Nutzung derKernspaltung sei der Segen der Menschheit - natürlich ein technologisch absolut sicherer Segen. "Dasist doch mit der Kernfusion nicht zu vergleichen", wehrt Brakel ab. Deren Vorteil sei nämlich, dassschon die minimalste Störung zum Zusammenbruch der Kettenreaktion führt. "Während sich beiAtomunfällen im extremsten Fall - wie in Tschernobyl - Hitze unkontrolliert aufbauen kann, würde esbei einer Störung der Kernfusion zum sofortigen Erkalten kommen." 

Kernfusion ist das Prinzip der Sonne: Atomkerne von Wasserstoff und Helium verschmelzen und gebendabei ungeheure Mengen von Energie ab. Dieses Vorbild wollen sich Forscher wie Brakel zu Eigenmachen. Das Potenzial ist fantastisch. 1 Gramm Wasserstoff gibt etwa dieselbe Menge Energie frei wiedie Verbrennung von 8 Tonnen Erdöl. Oder 11 Tonnen Kohle. 

Die Wasserstoffbombe nutzt das gleiche Prinzip. Unkontrolliert freigesetzt, zerstört die gigantischeEnergiemenge dutzendfach brutaler als eine Atombombe. Der Schlüssel zur friedlichen Nutzung ist alsodas kontrollierte Freisetzen der Energie. Das aber setzt eine komplizierte Technologie voraus - ander nun schon seit 30 Jahren gearbeitet wird. "Um das Fusionsfeuer kontrolliert zu zünden, muss einWasserstoffplasma in Magnetfeldern eingeschlossen und auf Temperaturen über 100 Millionen Gradaufgeheizt werden", erklärt Brakel. 

Was Wissenschaftler und Energiefachleute besonders begeistert: Deuterium und Lithium - die für denFusionsprozess nötigen Grundstoffe - sind auf der ganzen Welt verteilt in ungeheuren Mengenvorhanden. "Rohstoff-Preissteigerungen wie beim Öl wird es nicht geben", prophezeit Brakel. Sichersei die Kernfusion auch, weil weder Deuterium und Lithium noch das Reaktionsprodukt Heliumradioaktiv sind. Nur das Zwischenprodukt Tritium strahlt. "Aber das hat ja nur eine Halbwertszeitvon 12,6 Jahren", beruhigt Brakel. Die Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission teilt Brakels positive Einschätzung: "Auflange Sicht bietet die Kernfusion die Option für eine in großem Maßstab verfügbare Energiequelle,die geringe Auswirkungen auf die Umwelt hat, sicher ist und über große und weit verbreiteteBrennstoffreserven verfügt." Entsprechend aufwändig wird an der Technologie geforscht. 

Zum Beispiel in Greifswald: "Wendelstein 7-X" heißt die Fusionsanlage, die hier in einer riesigenHalle gebaut wird und bis 2011 fertig sein soll. Allerdings ist die Anlage allenfalls eine Vorstufe.Hier wollen die Forscher prüfen, ob ihre gewundene Bauweise tatsächlich in der Lage ist, dasnotwendige Plasma zu erzeugen und stabil zu halten. Fünfzig supraleitende Magnetspulen sollen einMagnetfeld erzeugen, das das eingeschlossene Plasma "schweben" lässt, damit es nicht mit derReaktorwand in Berührung kommt. Den gesamten Spulenkranz umschließt eine wärmeisolierende Außenhüllevon 16 Metern Durchmesser. Schließlich soll die Anlage einmal bis zu 133,7 Millionen Grad Celsiusvertragen können. Über 1 Milliarde Euro sind für das Projekt veranschlagt, finanziert durch die EU,den Bund und das Land Mecklenburg-Vorpommern. 

Schon seit Jahrzehnten werden Milliarden in die Erforschung der zivilen Nutzung der Kernfusiongesteckt. Im britischen Culham etwa wird eine andere Fusionstechnologie - Typ Tokamak - getestet.Das Projekt ist derzeit die weltweit größte Fusionsanlage. Noch. Denn im südfranzösischenForschungszentrum Cadarache entsteht für 10 Milliarden Euro der Fusionsreaktor Iter. Wenn allesklappt, wäre das der erste Testreaktor, der netto mehr Energie liefert, als er zum Betrieb benötigt.Mit Hilfe der hier gewonnenen Erkenntnisse soll anschließend ein Demonstrationsreaktor gebaut werden. 

"In 50 Jahren wird uns die Kernfusion mit Strom versorgen - das wird uns nun schon seit 30 Jahrenversprochen", kritisiert Johannes Lackmann, Präsident des Bundesverbandes Erneuerbare Energien. DerPreis für Fusionsstrom werde mit 20 Cent je Kilowattstunde kalkuliert. Aber "Wind- und Wasserkraftliegen heute bei circa 8 Cent, Biomasse bei 15 Cent", so Lackmann. Energiepolitisch sinnvoller seies daher, die prognostizierten Forschungskosten von 100 Milliarden Euro in Forschung und Ausbau dererneuerbaren Energien zu stecken. 

Das sehen andere Kritiker genauso. SPD-Staatssekretär Ulrich Kasparick geht etwa auf dasKlima-Argument der Fusions-Fans ein: "Kernfusion kommt als energiepolitische Option zu spät. Dieentscheidenden Weichenstellungen erfolgen in den nächsten 10 bis 20 Jahren." Die beste Kernfusionliefert immer noch die Sonne - und die sollte man nutzen, so das Fazit der Fusionskritiker. 

taz vom 22.4.2006, S. 13, 146 Z. (TAZ-Bericht), NICK REIMER

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"die tageszeitung", 22.4.2006

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0101.1/text 

das taz-dossier 13

Peking will am liebsten die Blaupausen

China hat derzeit neun Atomkraftwerke. Sie decken nur zwei Prozent des Elektrizitätsbedarfs des Landes 

PEKING taz Im Jahr 1985 vergab China den Auftrag für das erste, mit ausländischer Technologie gebaute Atomkraftwerk im Land. Heute laufen neun Reaktoren, acht davon mit westlicher Technik. Sie decken 2 Prozent des Elektrizitätsbedarfs des Landes. Von einer auch noch so kleinen Panne im chinesischen Atombetrieb ist nichts bekannt. Doch muss nicht gerade das Misstrauen erregen? "Vielleicht ist in China schon ein Atomunfall passiert, aber wir wissen nichts davon", sagt der Pariser Energieexperte Mycle Schneider. 

Der langjährige AKW-Kritiker verweist auf die Erfahrungen von Tschernobyl. Die Geschichte der Atomkraft habe gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit von Sicherheitsproblemen umso höher sei, je weniger transparent und demokratisch interne Anlagenkontrolle und öffentliche Überwachung seien. Dies sollte auch den Regierungen in Berlin und Washington zu denken geben, die den Atomexport nach China mit Bürgschaften unterstützen. Denn wer Atomtechnik an China verkauft, muss sie an einen Kontroll- und Sicherheitsapparat übergeben, der von Transparenz nichts wissen will. Beispiele dafür, wie Peking Katastrophen verheimlicht, gibt es zuhauf - etwa die jüngste Chemieexplosion, die das Trinkwasser von Millionen Menschen verseuchte. 

Gleichwohl können der deutsch- französische Areva-Konzern oder die von Toshiba kontrollierte Westinghouse-Gruppe heute ungestört um einen 8-Milliarden-Dollar-Auftrag für den Bau von vier weiteren Reaktoren in China feilschen. Als US-Unternehmen war es Westinghouse bis 2004 aus militärischen Gründen verboten, seine Reaktoren nach China zu liefern. Jetzt aber gehen Industrielle davon aus, dass Peking dieser Firma den Zuschlag gibt. 

All dies hat weltweit Euphorie angesichts einer Renaissance der Atomindustrie in China ausgelöst. Die westliche Atomlobby übernimmt derzeit eins zu eins die Planungen der Pekinger Behörden, wonach China bis 2020 eine Atomstromleistung von 40.000 Megawatt installieren will. Doch weist ein neuer Forschungsbericht von Schneider, Lutz Mez (FU Berlin) und Steve Thomas (University of Greenwich) den Pekinger Plan als "wilde Spekulation" zurück. 

Nach diesen Plänen müsste China bis 2010 angesichts der langen Ausschreibungsdauer 20 neue Reaktoren in Auftrag geben. Solche Massenaufträge aber widersprächen seiner langjährigen Politik, statt Reaktoren Technologie einzukaufen. Seit 1985 kaufte Peking je zwei britisch-französische, französische, kanadische und russische Reaktoren. Jetzt sollen vier amerikanische folgen - alles, um Blaupausen für die Entwicklung einer eigenen Reaktorlinie zu bekommen. Von deren industrieller Serienreife aber spricht in China noch niemand. Die chinesische AKW-Renaissance findet vorerst nicht statt. GEORG BLUME 

taz vom 22.4.2006, S. 14, 77 Z. (TAZ-Bericht), GEORG BLUME

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"die tageszeitung", 22.4.2006

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das taz-dossier 13

Schneller brüten

In Russland sollen ab 2012 jedes Jahr zwei neue Atomreaktoren gebaut werden, für den schnellen Brüter BN-800 gib es schon in diesem Jahr Geld aus dem Staatshaushalt 

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH 

Der erste sowjetische 5-Megawatt Reaktor ging im Juni 1954 in Obninsk, einer Kleinstadt in der Nähe Moskaus, ans Netz. Neun Jahre nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Die friedliche Nutzung der Atomenergie war ein technologischer Sieg der UdSSR im Kalten Krieg mit den USA. Seither ist Atomtechnik nicht nur Hätschelkind des Staates, sondern auch Gegenstand nationalen Stolzes. Daran änderte auch der Reaktorunfall in Tschernobyl wenig. Einheimische Atomphysiker sind überzeugt, dass die nukleare Infrastruktur Russlands im zivilen und militärischen Bereich zu den entwickeltsten der Welt zählt. 

Jüngsten westlichen Zweifeln daran, dass Russland unter den führenden G-8-Industriestaaten überhaupt ein fester Platz gebühre, trat Präsident Wladimir Putin denn auch mit einem Verweis auf die nukleare Leistungsfähigkeit entgegen: Ohne die größte Nuklearmacht der Welt seien die Probleme internationaler Atomsicherheit nicht zu lösen, meinte der Kremlchef, der im Juli den G-8-Gipfel ausrichtete, dessen zentrales Thema die globale Energiesicherheit sein wird. 

Nach offiziellen Angaben entfallen 16 Prozent der russischen Stromerzeugung auf Kernenergie. Moskau will den Anteil in den nächsten 15 Jahren auf 25 Prozent steigern. Ab 2012 plant die föderale Atombehörde "Rosatom" den Bau von vierzig neuen Reaktoren. Jedes Jahr sollen zwei Blöcke ans Netz gehen. Sergei Kirijenko, Chef der Atombehörde, bezifferte die anfallenden Investitionen auf 50 Milliarden Euro. In der Gesamtbilanz des russischen Energieverbrauchs schlägt Kernenergie jedoch nur mit 4 Prozent zu Buche, was auf einen hohen Brennstoffbedarf im Transportwesen und in der Wärmeversorgung zurückzuführen ist. 

Moskaus Atomlobby frohlockt angesichts der neuen Pläne: "Im Vergleich zu Kohle und anderen Energieträgern ist Atomenergie sicherer", behauptet Wladimir Orlow von PIR, einem Thinktank im Umfeld der Atomwirtschaft. Inzwischen seien die fortgeschrittenen Technologien gegen Proliferation auch ziemlich resistent, meint Orlow.

 Von einer weltweiten Atom-Renaissance verspricht sich Rosatom gute Geschäfte. Um leistungsfähiger zu werden, soll der gesamte Nuklearbereich privatisiert und in Aktiengesellschaften überführt werden mit dem Staat als Alleinaktionär. Obwohl die Atomkraftwerke Staatseigentum wären, ließe dies ein gewinnorientiertes Management zu, glaubt der Vorsitzende des Duma-Komitees für Transport, Kommunikation und Atomtechnik, Wiktor Opekunow.

 Vorgesehen sind drei Holdings: Die erste bilden AKW-Betreiber, die zweite umfasst die Minen und Urananreicherung, die dritte beinhaltet Produktionsgüter und Technik des Nuklearsektors. Bislang waren die Bereiche auf mehrere GUS-Staaten verteilt. Urangewinnung fand in der UdSSR in Kasachstan und Usbekistan statt, automatisierte Kontrollsysteme, Pumpen und Turbinen stellte die Ukraine her. Seine Aufgabe sei es, den Komplex unter Marktbedingungen wieder zu beleben, meinte Sergei Kirijenko. In Anlehnung an den staatseigenen Gasgiganten Gazprom dürfte nach der Restrukturierung ein nukleares "Atomprom" entstehen.

 Auf eine technologische Innovation aus seinem Haus hofft Kirijenko schon in den nächsten Jahren. Für den schnellen Brüter BN-800 wurden im diesjährigen Haushalt bereits Gelder bereitgestellt. 1,2 Milliarden Euro kostet das Projekt des Neutronenbrüters, der im AKW Belojarskaja im Ural verwirklicht werden soll. Im Wernadsky Institut für Geochemie träumen Experten unterdessen schon von einer ganz neuen Generation thermonuklearer Energiegewinnung: "Helium-3 ist die einzige Quelle nuklearer Energie, die keine radioaktiven Abfälle produziert", erläutert Institutsleiter Erik Galimow. Ein Nachteil besteht allerdings. Helium-3-Ressourcen auf der Erde sind begrenzt, größere Vorkommen lagern auf dem Mond. Auch das sei kein Problem, meint das Moskauer Raumfahrtunternehmen Energija: 2015 könnte Russland bereits eine erste Basis auf dem Mond eröffnen und fünf Jahre später mit der industriellen Gewinnung des Helium-3-Isotops beginnen. "Wer den Heliumabbau zuerst meistert, gewinnt das Rennen um die weltweite Führung im Energiebereich", meint Energija-Direktor Nikolai Sewastjanow.

 Den Energieexperten Wladimir Tschuprow beunruhigt besonders die Kernkraft-Renaissance in Russland. Russische AKWs gehen wesentlicher laxer mit Sicherheitsstandards um als westliche AKW-Betreiber, meint der Leiter der Abteilung Kernenergie bei Greenpeace Moskau. Grundsätzlich sei in Russland das Risiko durch potenzielle terroristische Bedrohungen in den letzten Jahren nochmals gestiegen.

 Zweifel hegen die Atomexperten auch an den günstigeren Produktionskosten. Bei der offiziellen Berechnung des Atomstroms durch Rosatom fließt eine ganze Reihe von Faktoren nicht in die Kostenkalkulation mit ein. Staatliche Subventionen, internationale Hilfen, Lagerungskosten, Sicherheitsmaßnahmen oder zusätzliche Sozialleistungen für AKW-Angestellte tauchen in der Preiskalkulation gar nicht erst auf. Tschuprow vermutet, dass bis zu 40 Prozent der Aufwendungen und Fremdzuschüsse nicht im Preis enthalten sind. Allein bis 2010 erhält Russlands Atomsektor Zuwendungen von mindestens 5 Milliarden Dollar. Stillgelegte AKW-Blöcke müssen überdies erst in hundert Jahren entsorgt werden. Auch diese Kosten werden unterschlagen und nachfolgenden Generationen aufgebürdet. 

taz vom 22.4.2006, S. 14, 154 Z. (TAZ-Bericht), KLAUS-HELGE DONATH

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"die tageszeitung", 22.4.2006

http://www.taz.de/pt/2006/04/22/a0105.1/text 

das taz-dossier 14

Der erste EU-Reaktor

An Finnlands Ostseeküste endete der 15-jährige AKW-Neubaustopp in Westeuropa - mit diversen Ködern 

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF Auf der Insel Olkiluoto sind die Betonarbeiten in vollem Gange. Neben den beiden in den Siebzigerjahren hier an der Ostseeküste erbauten Reaktoren entsteht Finnlands fünftes AKW - der erste westeuropäisch und skandinavische Reaktorneubau seit 1991. "Die Atomkraftlobby hat diesen Neubau wirklich gebraucht", sagt Tuuli Kaskinen, Energiespezialistin beim finnischen Naturschutzverband: "Finnland war das ideale Land für die vermeintliche Trendwende: Seht, ein zukunftsorientiertes und demokratisches Land mit gutem ökologischen Ruf, das sich für den Ausbau der Kernkraft entschieden hat."

 Die Anti-AKW-Bewegung hatte geglaubt, sich endgültig zur Ruhe setzen zu können, nachdem sich trotz einer intensiven Atomlobbykampagne in den Neunzigerjahren eine Mehrheit in Bevölkerung und Politik nicht von ihrer Atomkraftablehnung abbringen ließ. Und 1993 der Antrag für einen AKW-Neubau im Parlament abgeschmettert wurde. Doch die Industrie gab nicht auf und konzentrierte sich nun auf ein neues Argument: die Klimafrage. Atomkraft wurde als einzige Möglichkeit verkauft, mit der Finnland seine Kioto-Verpflichtungen erfüllen könnte. Teile der Gewerkschaften und die stromintensive Holz- und Stahlindustrie machten nun gemeinsame Sache mit der Energiewirtschaft: Nur mit neuem Atomstrom könne Finnland seine wirtschaftliche Leistungskraft sichern. Oder sei es etwa verantwortlicher, Strom aus russischen Schrottreaktoren zu importieren, als selbst neu und sicher zu bauen? 

Bei ihrer Einschätzung, dass das Projekt jedenfalls mangels Wirtschaftlichkeit scheitern würde, hatte die Antiatombewegung nicht einkalkuliert, dass die AKW-Industrie bereit war, sogar unter Selbstkostenpreis zu liefern, um endlich einen Neubauauftrag zu bekommen. Sie hatte zudem die Effektivität eines Finanzierungsmodells unterschätzt, bei dem das Investitionsrisiko im Austausch gegen Anteile an der künftigen Stromproduktion auf viele industrielle Schultern verteilt wurde. Mit einem "grünen" Energiepaket überzeugte die sozialdemokratisch geführte Regierung letzte Zweifler im Parlament. Parallel zum Reaktorneubau sollte massiv in erneuerbare Energieproduktion und effektivere Energienutzung investiert werden. 2002 war die erforderliche Reichstagsmehrheit zusammen. Wofür nicht unerheblich war, dass die Atomlobby mehrere Monate vorher verkündet hatte, Finnland habe das Atommüllproblem gelöst - als erstes Land der Welt. Feinheiten, dass diese "Lösung" bislang nur aus Plänen und Computeranimationen besteht, wurden dabei übersehen. "Jetzt wird der fünfte Reaktor gebaut, und aus den Absichtserklärungen zur erneuerbaren Energie ist nicht viel geworden", konstatiert Tuuli Kaskinen: "Aber schon wird von einem sechsten Reaktor gesprochen." 

Unter einem guten Stern steht der Neubau bislang jedoch nicht. Wegen Mängeln stoppte die Atomaufsichtsbehörde zeitweise die Arbeiten. Doch spätestens 2010 soll Olkiluoto 3, der mit 1.600 Megawatt leistungsstärkste Prototyp des "European Pressurized Water Reactor" ans Netz gehen. 

taz vom 22.4.2006, S. 16, 87 Z. (TAZ-Bericht), REINHARD WOLFF

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das taz-dossier 14

Die weltweite Nutzung von Atomkraftwerken 

Ende 2005 liefen laut Internationaler Atomenergiebehörde (www.iaea.org) weltweit 443 Meiler in 30 Ländern. Gebaut wird derzeit an 27 Stück. Ein Reaktorbau dauert mehrere Jahre. Hinzu kommt die Zeit für die Planung. Selbst wenn die laufenden AKWs ein Durchschnittsalter von 40 Jahren erreichten, müssten in den kommenden zehn Jahren 80 AKWs gebaut werden, um den Bestand zu halten, hat der Energieexperte Mycle Schneider errechnet. 

taz vom 22.4.2006, S. 16, 13 Z. (TAZ-Bericht) 

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