aus TAZ 15.11.99 Zehntausend für Sofortausstieg
Rund 10.000 AtomkraftgegnerInnen aus dem ganzen Bundesgebiet haben am
Samstag in Berlin für die sofortige Abschaltung aller 19 deutschen Atomkraftwerke
demonstriert. Zu der Kundgebung aufgerufen hatten Umweltverbände und die
Bäuerliche Notgemeinschaft Gorleben, die mit mehr als 100 Traktoren nach Berlin
anreiste. Mit der "Stunk-Parade" wollten die Landwirte an den Treck von 1979 nach
Hannover erinnern. Damals hatten sie mit ihrer Protestfahrt unter dem Motto
"Albrecht, wir kommen" das Ende der Wiederaufbereitungsanlage Gorleben erstritten
- ein Zwischenlager im Wendland konnten sie jedoch nicht verhindern.
Für einen der damaligen Anti-AKW-Aktivisten hat sich die Lage mittlerweile komplett
gewendet. Anstatt wie vor zwanzig Jahren mitzumarschieren, muss Jürgen Trittin als
Bundesumweltminister heute die Strategie von Rot-Grün beim Atomausstieg
verteidigen. Ob Trittin die Rote Karte gezeigt oder ob ihm eher Nachhilfe und
Ermutigung bei seinen Ausstiegsplänen zuteil werden sollte, blieb unter den Rednern
auf der Abschlusskundgebung strittig. "Das Konsensgeschwätz mit den
Stromkonzernen muss aufhören", forderte etwa Susanne Kamien von der
Notgemeinschaft.
Am Freitag, vor der Demonstration, versprach Trittin auf dem Landesparteitag der
Grünen in Düsseldorf, die Regierung wolle den Ausstieg "notfalls im Dissens mit der
Industrie" per Gesetz erreichen.
"Bis demnächst in Gorleben und Ahaus", hieß es zum Schluss der Kundgebung.
Schließlich wird spätestens im nächsten Frühjahr wieder mit Castor-Transporten
gerechnet.
Peter Nowak
taz Nr. 5991 vom 15.11.1999 Seite 11 51 Zeilen
TAZ-Bericht Peter Nowak
aus TAZ 15.11.99 Einzig auf die Berliner Polizei war wieder einmal Verlass
Mehrere tausend Landwirte und Atomkraftgegner forderten Bundeskanzler
Schröder zum Atomausstieg auf. Während die Demo friedlich verlief, hatten
Berliner Polizisten zuvor an der Stadtgrenze einen Trecker mit Biokartoffeln
beschlagnahmt
Die Landwirte aus Gorleben haben ihre Drohung wahr gemacht: "Gerhard, wir
kommen." Mit 100 Traktoren sind die Bauern aus dem niedersächsischen Landkreis
Lüchow-Dannenberg in Berlin eingerückt, um von der rot-grünen Bundesregierung
am vergangenen Samstag den sofortigen Atomausstieg zu fordern.
Es war ein bewegendes Bild, als die mit provokanten Transparenten geschmückten
Landmaschinen bei der "Stunk-Parade" über die Straße des 17. Juni rollten, auf der
bis zur Wende die Militärparaden der Alliierten stattgefunden hatten. Nur leider war
die Beteiligung an der bundesweiten Großdemonstration weniger als gering. Von den
erwarteten 10.000 AKW-Gegnern waren höchstens 5.000 gekommen, 1.000 davon
hatten die Bauern selbst mitgebracht.
"Die Ländler haben den Großstädtern gezeigt, wie man Politik macht", brachte ein
Berliner Demoteilnehmer seine Eindrücke auf den Punkt. Nicht nur die Traktoren
konnten sich sehen lassen. Vom offenen, klapprigen Oldtimer-Trecker, Baujahr
1947, bis zur gläsernen High-Tech-Kabine der Jahrtausendwende waren fast alle
Fabrikate vertreten. Die großen Traktoren hatten die kleinen beim Treck nach Berlin
Huckepack auf die Laderampe genommen, weil diese die Stadt sonst wohl niemals
erreicht hätten.
Auch die Transparente und Requisiten sorgten für Jubel und Applaus: Auf einem
Anhänger wurden die "unerfüllten Wahlversprechen" mitgeführt, auf einem anderen
stopften die Attrappen von Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Müller
gerade den Umweltminister Trittin in ein Klo.
"Fällt ein Bauer tot vom Traktor, ist in der Nähe ein Reaktor", hieß es auf einem
Transparent. Unter den Linden wurde ein mit Bildern von Schröder beklebter
Spielball von vier grauen Atomfässern mit der Aufschrift Siemens, Veba, RWE und
Bayer hin und her gekickt.
Dass mit ihnen nicht zu spaßen ist, hatten die Bauern schon beim letzten
Castor-Transport ins Wendland gezeigt, als sie mit 500 Traktoren eine Zufahrtstraße
zum Zwischenlager blockierten.
Auf der Abschlusskundgebung am Samstag wurde klar, dass sich daran auch unter
einem grünen Umweltminister nichts ändern wird: "So sicher wie der Frühling auf
den Winter folgt, stehen die Bauern mit ihrem Trecker auf der Straße, wenn sich eine
Atomschweinerei dem Wendland nähert", sagte Wolfgang Eisenberg von der
bäuerlichen Notgemeinschaft. "Damit das klar ist, haben wir weder Kosten noch
Mühe gescheut und unser Geschirr hier auffahren lassen."
Diskutieren werden die Bauern nun über die Frage müssen, ob die geringe
Beteiligung an der Demonstration an der schlechten Mobilisierung lag oder ob die
Anti-AKW-Bewegung am Boden liegt.
Einzig auf die Berliner Polizei, die schon bei den Castor-Transporten nach Gorleben
und Ahaus als Knüppelgarde in Erscheinung getreten war, war wieder einmal
Verlass. Am Freitagabend, kaum an der Stadtgrenze angekommen, wurde der
Treckerkonvoi von Berliner Beamten gefilzt.
Zwei weitere Durchsuchungen bis zum Demobeginn am Samstag sollten folgen. Ein
Anhänger mit Biokartoffeln wurde beschlagnahmt. Bei der Durchfahrt durch
Sachsen-Anhalt und Brandenburg habe sich die Polizei sehr korrekt verhalten, erzählt
ein Bauer. "Nur von den Berliner Bullen sind wir wie verkappte Terroristen
behandelt worden."
taz Berlin lokal Nr. 5991 vom 15.11.1999 Seite 19 111 Zeilen
TAZ-Bericht Plutonia Plarre
aus Westfälische Nachrichten 14.11.99
BRENNPUNKTE
Koalition macht beim Ausstieg Tempo
Berlin (dpa) - Beim geplanten Ausstieg aus der Atomenergie drückt die rot-grüne
Koalition aufs Tempo. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat sich jetzt mit
führenden Politikern der Grünen darauf verständigt, dass das Regierungsbündnis in
Kürze die Grundzüge eines Ausstiegsgesetzes vorlegen will.
Entsprechende Zeitungsberichte vom Wochenende wurden am Sonntag in Berliner Regierungskreisen
bestätigt. Die Koalition bereitet sich damit darauf vor, einen Atomausstieg notfalls gegen den Willen der
Kraftwerksbetreiber durchsetzen. Die Betreiber drohten erneut mit einer Verfassungsklage. In Berlin
demonstrierten am Samstag mehrere tausend Menschen für eine sofortige Stilllegung der noch 19
deutschen Reaktoren.
Angesichts der stockenden Konsensgespräche mit der Industrie hatte die Regierung in den
vergangenen Monaten mehrfach angekündigt, den Ausstieg per Gesetz zu vollziehen, wenn dies
rechtlich ohne Entschädigungszahlungen an die betroffenen Unternehmen möglich ist. Dabei drängen
vor allem die Grünen auf ein konsequentes Vorgehen des Regierungsbündnisses. Das wichtigste
Ergebnis mehrerer interner Gespräche in der zurückliegenden Woche sei, dass sich nun auch der Kanzer
entschlossen zeige, den Ausstieg durchzusetzen, hieß es.
Nach offiziell nicht bestätigten Informationen signalisierte Schröder gegenüber Bundesumweltminister
Jürgen Trittin und Außenminister Joschka Fischer (beide Grüne), dass er eine gesetzliche
Laufzeitbegrenzung für Atomkraftwerke von unter 35 Jahren mittragen würde. Diese Frist hatte
Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) vor Monaten in einem Eckpunkte-Papier mit den Chefs der
führenden Stromkonzerne ins Auge gefasst. Die Grünen haben dagegen bislang eine Frist von
höchstens 25 Jahren verlangt. Allerdings soll Fischer den Unternehmen nach Informationen der «Welt am
Sonntag» inzwischen eine Laufzeit von 28 Jahren vorgeschlagen haben. Intern hat sich die Koalition
noch nicht auf eine konkrete Zahl festgelegt. Diese könne aber am Ende «um die 30 Jahre» liegen.
In Regierungskreisen wird damit gerechnet, dass in Kürze auch die im Sommer eingesetzte
Arbeitsgruppe der Staatssekretäre der Ministerien für Wirtschaft, Umwelt, Justiz und Innen ihre
Ergebnisse vorlegen wird. Das Gremium soll die rechtlichen Möglichkeiten für einen gesetzlich
vorgegebenen, aber entschädigungsfreien Atomausstieg prüfen. Da es darüber erhebliche
Meinungsunterschiede unter den einzelnen Fachressorts gibt, hat die Arbeitsgruppe die Vorlage ihres
ursprünglich schon im September erwarteten Berichtes auf unbestimmte Zeit verschoben.
Der Chef der Bayernwerk AG, Otto Majewski, wiederholte in der «Bild am Sonntag» noch einmal die
Drohung der Konzerne, gegen einen Ausstieg per Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Erst kürzlich hatte Majewski angekündigt, die Stromwirtschaft werde die Regierung dann auf
Entschädigungszahlungen in zweistelliger Milliardenhöhe verklagen.
Gleichwohl bleibt auch Umweltminister Trittin bei einer harten Haltung: «Wenn die Atomindustrie glaubt,
den Ausstieg aussitzen zu können, dann hat sie sich getäuscht», sagte er am Freitagabend auf dem
Grünen-Landesparteitag in Düsseldorf. Auch Wirtschaftsminister Müller erneuerte die Absicht, beim
Scheitern der Konsensverhandlungen gegen den Willen der Industrie ein Ausstiegsgesetz zu
verabschieden. Allerdings bezifferte er die Chancen für eine gütliche Einigung auf immer noch
«erheblich über 50 Prozent». Zudem würde ein Ausstiegsgesetz «mit ziemlicher Sicherheit einen
Regierungswechsel nicht überstehen», meinte er in der «Bild am Sonntag».
Die bislang größte Anti-Atom-Demonstration in Berlin wurde am Samstag von Bauern angeführt, die mit
rund 100 Traktoren aus dem 180 Kilometer entfernten Wendland in Niedersachsen zu einer
«Stunkparade» in die Hauptstadt gekommen werden. Im wendländischen Gorleben wird eines der
größten deutschen Zwischenlager für Atommüll betrieben. Auf Spruchbändern forderten die Protestler
eine «Zukunft ohne Atomkraft». Das «Konsens-Geschwätz» mit den Stromkonzernen müsse aufhören,
sagte Susanne Kamien von der Bäuerlichen Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg. An der friedlich
verlaufenden Demonstration nahmen Atom-Gegner aus dem gesamten Bundesgebiet teil, darunter die
Mitglieder mehrerer Landesverbände der mitregierenden Grünen.
aus TAZ 15.11.1999 Einigkeit macht Druck
Ein Gesetz zum Atomausstieg sieht die grüne Energieexpertin Hustedt als
"Voraussetzung für einen letzten Konsensversuch mit der Industrie"
taz: Die SPD will "mehr Rücksicht nehmen" auf die Grünen, auch
Wirtschaftsminister Müller nähert sich grünen Positionen. Dreht sich
der Wind in der Atompolitik?
Michaele Hustedt: Die SPD scheint zu der Verabredung der Koalition zu stehen,
falls nötig den Ausstieg im Dissens vorzubereiten. Das ist die Voraussetzung, um
dann vielleicht noch einen allerletzten Versuch für einen Konsens zu machen.
Wie geht es jetzt weiter?
Nachdem auch der Kanzler entsprechende Zeichen gegeben hat, wird sich die
Koalition bald einigen. Das entscheidende Problem war doch bisher, dass es auch
nach außen hin keine Einigung gab, wie man den Ausstieg im Dissens durchführt.
Das hat uns schwach gemacht in den Verhandlungen mit den Stromkonzernen. Da
sehe ich jetzt einen großen Fortschritt.
Wie wird die koalitionsinterne Einigung aussehen?
Ich will jetzt noch nicht über Jahreszahlen reden. Es geht darum, ein Ausstiegsgesetz
zu machen. Im Bereich der Laufzeiten deutet sich an, dass es auch juristisch
entschädigungsfrei möglich ist, die Laufzeiten zu begrenzen. Die werden deutlich
unter den 35 Jahren sein, die die Industrie will.
Glauben Sie daran, dass Müller und die SPD wirklich Druck machen
werden auf die Konzerne?
Es geht jetzt nicht darum, direkt Druck auf die Konzerne zu machen. Es geht darum,
dass sich die Regierung einig ist: Wir machen den Ausstieg auch im Dissens. Diese
Einigung, die macht dann den Druck.
Fischer und Trittin sollen 28 Jahre Laufzeit pro AKW vorgeschlagen
haben. Ist das die neue grüne Linie?
Sagen wir mal so: Es wird auf jeden Fall keine Einigung auf 35 Jahre geben. Es wird
deutlich darunter liegen. Bei 28 Jahren oder wo auch immer ...
Wo ist denn die Schmerzgrenze?
Es muss ein Ausstieg sein und kein Auslaufen.
Ist es für die Grünen Grundbedingung, dass vor 2002 AKWs
abgeschaltet werden, brauchen sie nicht auch diesen symbolischen
Erfolg?
Das streben wir an, aber es geht nicht nur um Symbole. Es nützt uns ja kein Gesetz,
was uns nach einer Klage zwei Jahre später um die Ohren fliegt. Deshalb wird es
auch Übergangsfristen geben müssen. Entscheidend ist, dass der Ausstieg festgelegt
wird. Wenn das erst einmal klar ist, dann wird es einen Paradigmenwechsel geben in
der Energiepolitik. Und das wäre ein klarer Erfolg grüner Politik, denn der
Atomausstieg ist der Beginn einer zukunftsfähigen Energieversorgung in
deutschland.
Minister Müller hat angedeutet, dass einige AKWs möglicherweise
ohnehin aus Rationalisierungsgründen stillgelegt werden. Würden Sie
sich damit abspeisen lassen?
Nein, aber das bestärkt mich darin, dass wir nach wie vor einen Konsens anstreben
sollten. Trittin hat ein flexibles Modell vorgeschlagen. Dann könnte die
Energiewirtschaft einige Kraftwerke früher abschalten und andere länger laufen
lassen. Das würde bedeuten, dass in der Anfangsphase mehr Kraftwerke vom Netz
gehen als bei einem Ausstieg im Dissens. Das wäre natürlich besser. Aber ein
Konsens geht nur, wenn die Koalition klar macht: Wenn der Konsens nicht klappt,
kommt der Ausstieg im Dissens.
Interview: Lukas Wallraff
taz Nr. 5991 vom 15.11.1999 Seite 8 103 Zeilen
Interview Lukas Wallraff
aus TAZ 15.11.1999 Betr.: Ausstieg aus der Atomenergie
Knackpunkt der Verhandlungen um den Atomausstieg sind die Laufzeiten der
Atomkraftwerke. Die Frage ist, ob bis zum Ende der Regierungsperiode 2002 einige
Reaktoren vom Netz gehen. Würde sich die Atomindustrie mit ihrer Forderung nach
35 Volllastjahren pro AKW durchsetzen, würde der erste Meiler erst 2003
abgeschaltet. Einigt man sich auf etwa 30 Betriebsjahre, müssten bis 2002 die
Anlagen in Obrigheim und Stade abgeschaltet werden. Als Letztes würde dann
Neckarwestheim II im Jahr 2019 ausgeknipst. taz
taz Nr. 5991 vom 15.11.1999 Seite 8 17 Zeilen
TAZ-Bericht