DER STANDARD

Freitag, 8. Oktober 1999, Seite 6

Unklarheiten über Strahlengefahren nach Atom-Unfällen gibt es nicht nur in Japan

Frühstück in Tschernobyl

Im seit 13 Jahren hoch verstrahlten Nahbereich um die ukrainische Atomkraftwerks-ruine leben trotz aller Verbote Menschen immer mehr ihren normalen Alltag und es kommen sogar Kinder zur Welt. Ein Wissenschafter spricht in diesem Zusammenhang von einer "tickenden Gen-Zeitbombe", berichtet Stefan Voß.

Kiew - Die Gottesmutter stand Patin in der Strahlenhölle: Maria heißt das Neugeborene von Michail und Lidija Wedernikow, wohnhaft im nordukrainischen Tschernobyl. Der Säugling in der Todeszone ist kein Einzelfall. Im Schatten des Katastrophenreaktors wird 13 Jahre nach dem Super-GAU trotz aller Verbote und Strahlenwarnungen gelebt, geliebt - und es werden Kinder geboren.

Der Beamte Nikolai Dmitruk kann die Aufregung um die kleine Maria nicht verstehen. "Sensation! Kind in Tschernobyl geboren", hatten die ukrainischen Zeitungen in den vergangenen Tagen geschrieben. "Es hat nach 1986 schon viele Geburten hier gegeben", sagt Dmitruk, der für den Katastrophenschutz in der Stadt arbeitet.

Nach der Reaktorkatastrophe im April 1986 hatte der Staat mehr als 100.000 Menschen aus dem Gebiet umgesiedelt. Viele waren aber mit ihren schlampig gebauten Notunterkünften unzufrieden oder fanden überhaupt keine Bleibe. Offiziell leben wieder 700 Menschen mit Erlaubnis der Behörden in der "Sona", einem Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um das Atomkraftwerk. Die Zahl der illegalen, aber geduldeten Siedler ist um ein Vielfaches höher. Die meisten sind Pensionisten, die aus Nostalgie in ihre alten Hütten und Häuser heimkehrten. Etwa ein Fünftel aller Rückkehrer dürfte jünger als 50 Jahre sein, schätzen die Menschen in Tschernobyl.

Wohnungsproblem

Ein Treffpunkt in der "Sona" ist der Kleidermarkt des Städtchens Polesskoje, 20 Kilometer vom Reaktor entfernt. Einmal pro Woche kommen Händler und bieten wattierte China-Jacken und Fundstücke aus der deutschen Altkleidersammlung an. Auch Sergej, Anfang 20, stöbert im Angebot. Eigentlich wolle er seit Jahren aus der Todeszone wegziehen. "Doch woanders gibt es weder Arbeit noch eine Wohnung für mich."

Die Menschen leben in und um Tschernobyl mit der Hoffnung, auf einem weniger belasteten Fleckchen Erde zu wohnen. Messungen ergaben, dass die Strahlung im Reaktorumkreis unterschiedlich verteilt ist.

Auch innerhalb der Tschernobyl-Ruine gebe es Nischen, in denen die Radioaktivität so gering sei, dass man dort in aller Ruhe frühstücken könnte, sagen Mitarbeiter. Im angrenzenden Nachbarblock, der derzeit für einen Neustart gewartet wird, und den übrigen Abteilungen arbeiten offiziellen Angaben zufolge mehr als 6000 Menschen. Die meisten kommen von außerhalb. Etwa 100.000 Tonnen Metall wurden durch die Explosion verstrahlt. Weniger als ein Prozent davon hatte die Gebietsverwaltung bis zum vergangenen Jahr entsorgt.

Dank westlicher Finanzhilfe zur Erforschung und Beseitigung der Tschernobyl-Schäden zählt die "Sona" in der armen Ukraine zu den wohlhabensten Gebieten. Trotz aller Sorgen haben sich viele Arbeitnehmer mit ihren Familien an die Bedingungen gewöhnt. Zeitungen beruhigen in ihren Berichten immer wieder mit angeblichen Studien, wonach die erhöhte Strahlung keine oder nur unerhebliche Auswirkungen auf das menschliche Erbgut habe.

Der Kiewer Biologie-Professor Wjatscheslaw Konowalow spricht dagegen von einer "tickenden Gen-Zeitbombe" und warnt vor dem Siedeln in der "Sona". Seit der Katastrophe sammelt der heute 62-jährige Genetiker mutierte Pflanzen und Tiere in den verstrahlten Gebieten.

"Meine Untersuchungen an Mäusen und Schweinen haben ergeben, dass erst nach mehreren Generationen Veränderungen sichtbar werden", erläuterte Konowalow in Kiew. Was im nächsten Jahrhundert auf die Menschen in und um Tschernobyl zukomme, sei ungewiss. (dpa)

 

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