Berlinner Zeitung 22.11.99

Konzerne drohen mit Aufbereitung von Atommüll bis 2015

 

Minister Schily und Däubler-Gmelin halten

Begrenzung der Meiler-Laufzeiten auf

unter 30 Jahre für "verfassungsrechtlich

fragwürdig"

 

Hendrik Munsberg und Christian Schwägerl

 

BERLIN, 21. November. Die deutsche Stromindustrie droht

damit, die Wiederaufarbeitung deutschen Strahlenmülls im

Ausland bis 2015 fortzusetzen. Wie die "Berliner Zeitung"

erfuhr, haben sich die Konzerne RWE, Veba und Viag darauf

verständigt, sämtliche mit den Wiederaufarbeitungsanlagen in

Frankreich und Großbritannien geschlossenen Verträge

auszuschöpfen, wenn es keinen Energiekonsens mit der

Bundesregierung gibt. Zwar beinhalten die Kontrakte mit den

Recycling-Firmen vorzeitige Kündigungsrechte, womit sich

die Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls binnen fünf

Jahren weitgehend beenden ließe. Im Streitfall will die

Atomindustrie davon aber keinen Gebrauch machen.

 

Rechtsstreit droht nicht nur mit der heimischen

Stromindustrie, sondern auch mit Frankreich und

Großbritannien, woraus sich leicht Schadenersatzpflichten in

Milliardenhöhe ergeben können. Zwar bliebe der

Bundesregierung die Möglichkeit, auch die

Wiederaufarbeitung gesetzlich zu verbieten. In diesem Fall

"höherer Gewalt" wären die Stromkonzerne durch

entsprechende Klauseln von der Haftung gegenüber den

Wiederaufarbeitern befreit. Die Regierungen in Paris und

London könnten jedoch die Bundesrepublik auf Schadenersatz

verklagen. Das drohten sie bereits an, als Umweltminister

Trittin nach Amtsantritt die Wiederaufarbeitung beenden

wollte.

 

Mindestens drei Jahre Vorlauf

 

Die Kraftwerksbetreiber drohten laut einem Bericht der "Welt

am Sonntag", die Bundesregierung auf 50 Milliarden Mark

Entschädigung zu verklagen, sollte diese den Atomausstieg

gesetzlich erzwingen wollen. Die Stromkonzerne sind zudem

entschlossen, von der Bundesregierung knapp vier Milliarden

Mark zurückzufordern, die sie für die Endlagerprojekte

Gorleben und Konrad bereits gezahlt haben.

 

Regierungsintern erklärten Innenminister Otto Schily und

Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (beide SPD), dass sie

eine Begrenzung der Meiler-Laufzeiten auf unter 30 Jahre für

"verfassungsrechtlich fragwürdig" und damit für ein Etatrisiko

halten. Unproblematisch sei eine Frist ab 35 Jahren. In jedem

Fall aber müsse der Staat Stilllegungen drei bis fünf Jahre im

voraus ankündigen, erst danach könnten Meiler ohne

Schadenersatzrisiko abgeschaltet werden. Selbst ein

gesetzlicher Ausstieg brächte damit in dieser Legislaturperiode

kein einziges Atomkraftwerk vom Netz.

 

Entgegenkommen haben die Konzernchefs nur für den Fall

signalisiert, dass Rot-Grün auf Konsenskurs bleibt. Dann

wollen die Stromunternehmen &endash; unter Verzicht auf

Schadenersatzklagen &endash; nun auch eine Begrenzung der

Meiler-Gesamtlaufzeiten auf 35 Kalenderjahre akzeptieren;

allerdings nur, wenn die Entsorgung aller Meiler zweifelsfrei

sicher ist. Damit die Regierung in dieser Legislaturperiode

einen Erfolg vorzuweisen hätte, so sieht es die streng

vertrauliche Abmachung der Konzernchefs vor, soll

Deutschlands zweitältester Meiler, Stade, bis 2002 vom Netz

gehen. Dort wäre der fällige Bau eines Zwischenlagers

unrentabel.

 

Für den ältesten deutschen Meiler, Obrigheim, der 1968 ans

Netz ging, käme das Aus später. Dessen Eigentümer, die

Energie Baden-Württemberg (EnBW), verfügt über ein

Zwischenlager. Zudem sperrt sich Konzernchef Eberhard

Goll, seit er Frankreichs Strommonopolisten EdF den Weg

zum Einstieg bei EnBW ebnete.

 


Frankfurter Rundschau 1999

Dokument erstellt am 22.11.1999 um 20.45 Uhr

Erscheinungsdatum 23.11.1999

Für Atomtransporte müssen AKW-Betreiber 100 Auflagen erfüllen

 

Gutachter halten Nuklearfuhren ohne Kontamination für möglich / Trittin

rechnet mit Genehmigung in "einigen Wochen"

 

Von Joachim Wille

 

Der Bund kann den Transportstopp für Atomfrachten in die

Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) nach Frankreich und Großbritannien

aufheben. Vorher müssen die AKW-Betreiber allerdings rund 100 Auflagen

erfüllen, um eine Verseuchung der Behälter, Waggons und Lkw zu verhindern.

Das empfiehlt ein von der Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten.

 

FRANKFURT A. M., 22. November. Bereits seit Mitte vergangenen Jahres sind in

Deutschland Transporte mit abgebrannten Brennstäben aus Atomkraftwerken und von

strahlenden Restprodukten aus den Atomfabriken nach La Hague (Frankreich) und Sellafield

(Großbritannien) untersagt. Zu dem Verbot hatten zum Teil extrem hohe Überschreitungen des

Grenzwertes für Radioaktivität an Transportbehältern und auch an den Fahrzeugen geführt.

Statt der erlaubten vier Becquerel pro Quadratzentimeter wurden bis zu 13 000 gemessen und

aktenkundig gemacht. Die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) verfügte

das Transportverbot.

 

Mit dem Gutachten über die WAA-Fuhren liegt nun die dritte und letzte Studie zu den

Atomtransporten vor, die von der rot-grünen Bundesregierung bei der Gesellschaft für

Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln/Berlin und dem Ökoinstitut Darmstadt in

Auftrag gegeben worden war. Nach FR-Informationen halten die Gutachter es durchaus für

möglich, dass die Transporte künftig ohne Kontamination durchgeführt werden können.

Allerdings müssen die Stromkonzerne vorher die rund 100 Auflagen "abarbeiten", die sich

etwa auf die Beladeprozeduren und exaktere Messmethoden beziehen. Die Studie wurde am

Montag an das Bundesumweltministerium, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), die

Länder und die AKW-Betreiber verschickt. Dem Eisenbahn-Bundesamt liegt sie laut dessen

Sprecher bereits vor.

 

GRS und Öko-Institut hatten auch in den beiden Vorgänger-Gutachten - sie betrafen die

innerdeutschen Transporte vom jeweiligen AKW-Standort zu den Zwischenlagern Gorleben

und Ahaus sowie die Rücktransporte aus La Hague und Sellafield - Auflagen gemacht,

allerdings "nur" 60. Die bei den Fuhren nach La Hague benutzten französischen

"Stachelbehälter" (die "Stacheln" ermöglichen eine bessere Wärmeableitung) gelten als

besonders schwer "sauber" zu halten und zu überwachen. Bei den Betreibern, deren Experten

über die zu erwartenden Auflagen bereits im Bilde sind, ist zu hören, dass deren Abarbeiten

"mindestens bis Februar" dauern dürfte. Die Stromkonzerne dringen auf eine baldige

Wiederzulassung der Transporte, weil sonst an vier AKW-Standorten (Neckarwestheim,

Philippsburg, Stade und Biblis) eine Überfüllung der Abklingbecken und damit ein Stopp der

Stromproduktion droht. Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) werfen sie eine

"Verstopfungsstrategie" durch Verzögern der Transportgenehmigung vor.

 

Trittins Sprecher Michael Schroeren sagte der FR, bis zu einer Freigabe der Transporte könne

es "noch einige Wochen" dauern. Den Vorwurf der Verzögerungstaktik wies er zurück; das

letzte Gutachten sei mehrere Monate nach den beiden anderen fertig geworden, da prüffähige

Unterlagen erst spät vorgelegt worden seien. Zwangsweise müßten die AKW trotzdem nicht

abgeschaltet werden, da man den Betreibern Möglichkeiten für Übergangslösungen zur

Lagerung der abgebrannten Brennstäbe an den AKW-Standorten aufgezeigt habe. Daran

arbeiteten die Stromkonzerne nun intensiver, sagte Schroeren.


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