Financial Times Deutschland vom 4.11.2000

 

Bundesregierung will alle deutschen

Atomreaktoren grundlegend überprüfen

Von Timm Krägenow, Berlin

 

Nach dem Bekanntwerden von jahrelang nicht entdeckten

Rissen im Kühlsystem des Kernkraftwerks Biblis A plant die

Bundesregierung jetzt die Überprüfung aller deutschen

Kernkraftwerke.

 

"Umfang und Tiefe des Prüfprogramms müssen noch festgelegt

werden", sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums am

Donnerstag in Berlin. "Die Details hängen von den Ergebnissen

der Untersuchungen in Biblis ab."

 

Im Reaktor Biblis A waren im Oktober drei tiefe Risse in einer

Schweißnaht gefunden worden, die das Haupt- und das

Notkühlsystem miteinander verbindet. Erste Untersuchungen

hatten schon 1992 auf den Schaden hingedeutet, waren aber

nach Darstellung des Betreibers RWE irrtümlich als "Messfehler"

interpretiert worden.

 

Bei RWE war man am Donnerstag nach Kräften bemüht, den Fall

nicht zu dramatisieren. In der Vergangenheit hatten die

Kraftwerksbetreiber Umweltminister Jürgen Trittin regelmäßig

vorgeworfen, Sicherheitsregeln zu scharf auszulegen und zu

"Nadelstichen" gegen die Kernenergie zu missbrauchen. Davon

war dieses Mal keine Rede.

 

Wiederanfahren verschiebt sich

 

"Wir wollen das in Absprache mit den Gutachtern vollständig

reparieren", sagte ein RWE-Sprecher: "Über die Dauer kann noch

nichts genaues gesagt werden. Wir gehen davon aus, dass es

mehrere Wochen dauern wird." Dadurch verschiebe sich auch das

Wiederanfahren des Reaktors nach der Revision, das für die

nächsten Tage geplant war.

 

Martin Waldhausen, Sprecher des Bundesumweltministeriums,

sagte, die herstellungsbedingten Risse in einer zentralen

Schweißnaht ließen aufhorchen. "Warum konnte das passieren,

dass das unbemerkt blieb?" Es stelle sich die Frage, ob es

ähnliche Befunde in anderen Kraftwerken gebe.

 

Bundesumweltminister Jürgen Trittin hatte in der vergangenen

Woche gesagt, ihn würde vor allem interessieren, wie man auf

die Idee kommen könne, solche Ultraschall-Ergebnisse als

Messfehler zu interpretieren. Die Bundesregierung hatte von dem

Schweißnaht-Fehler nur zufällig durch eine Indiskretion aus der

Reaktorsicherheitskommission erfahren.

 

Der hessische Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) räumte am

Donnerstag im Landtag Fehler bei der Informationspolitik ein.

Dietzel war schon am 12. Oktober über einen ersten Riss

informiert worden. Am 19. Oktober hatte CDU-Ministerpräsident

Roland Koch dennoch bei einem Besuch in Biblis den

Sicherheitsstandard des Kraftwerks gelobt. Dietzel sagte, er

habe den Ministerpräsidenten und die Öffentlichkeit erst am 23.

Oktober informiert.

 

Die drei nah beieinander liegenden Risse in der Schweißnaht sind

bei einer Materialstärke von 3,5 Zentimeter bis zu 1,6 Zentimeter

tief. Sie sind möglicherweise schon vor 27 Jahren beim Bau des

Reaktors entstanden.

 

Atompolitik wird Tagespolitik

 

Die schadhafte Schweißnaht soll nach Angaben von RWE jetzt

abgetragen und durch eine neue ersetzt werden. Zuvor soll

diese Reparatur an einem Muster erprobt und dieses von

Fachleuten begutachtet werden.

 

Der Fehler in Biblis A und die Überprüfung aller Kraftwerke könnte

die Atompolitik wieder auf die politische Tagesordnung rücken.

Seit sich Bundesregierung und Kraftwerksbetreiber im Juni auf

eine ungestörte Restlaufzeit für die deutschen Reaktoren

geeinigt hatten, war es um das Thema ruhig geworden. Doch

unter der Oberfläche gärt es: Der Stromkonzern Eon warf vor vier

Wochen der Bundesregierung in einem Brief vor, sich bei der

geplanten Novellierung des Atomgesetzes nicht an die

Abmachungen vom Juni zu halten.

 

Strittig ist vor allem, ob in dem Gesetz wie bisher weiter die

"schadlose Verwertung" abgebrannter Brennstoffe

vorgeschrieben werden soll. Eon fürchtet, dass diese Klausel die

so genannte Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente

im Ausland verhindern könnte: Für die dort entstehenden

Reststoffe gibt es nicht ausreichend schadlose

Verwendungsmöglichkeiten.

 

Umstritten sind auch die Transporte von abgebrannten

Brennelementen zur Wiederaufarbeitung nach Frankreich. Die

französische Umweltministerin Dominique Voynet hatte am

Dienstag in der Zeitung "Les Echos" klar gestellt, dass weitere

Transporte nach Frankreich erst dann zugelassen würden, wenn

Deutschland mit dem Rücktransport seiner radioaktiven Abfälle

aus Frankreich begonnen habe. Die deutsche Industrie drängt

auf bal

 

 

© 2000

 

Der Tagesspiegel 03.11.2000

 

Alle Meiler sollen auf Risse überprüft werden

 

Herstellungsbedingte Schäden machen Bundesregierung Sorge / RWE repariert

Kühlsystem von Biblis A

 

 

Bundesregierung und Reaktorsicherheitskommission planen eine Überprüfung aller

deutschen Atomkraftwerke auf Risse im Sicherheitsbereich. Wie das

Bundesumweltministerium am Donnerstag in Berlin erklärte, sollen zunächst jedoch die

Untersuchungen im südhessischen Atommeiler Biblis A abgeschlossen werden.

Umfang und Tiefe des Prüfprogramms müssten mit der Reaktorsicherheitskommission

noch beraten werden. In Biblis A waren im Oktober drei tiefe Risse in einer Schweißnaht

entdeckt worden, die Haupt- und Notkühlsystem miteinander verbindet.

 

Der Sprecher des Bundesumweltministeriums, Martin Waldhausen, sagte, die

Tatsache, dass es in Biblis A herstellungsbedingte Risse in einer zentralen

Schweißnaht gebe, lasse aufhorchen: "Warum konnte es passieren, dass das

unbemerkt blieb?" Es stelle sich die Frage, ob es ähnliche Befunde in anderen

Kraftwerken gebe. In einer Aktuellen Stunde des Wiesbadener Landtags erklärte der

hessische Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) am Donnerstag, dass Biblis A erst

wieder ans Netz gehen dürfe, wenn die schadhafte Schweißnaht repariert sei. Beim

Kraftwerksbetreiber RWE laufen unterdessen die Vorbereitungen für die Reparatur des

Schadens.

 

Dietzel sagte, er habe am 26. Oktober angeordnet, dass auch im Schwesterblock Biblis

B die Schweißnähte überprüft werden. Grüne und SPD warfen dem hessischen

Umweltminister in der Debatte Verschleierung vor. Obwohl er bereits am 12. Oktober

über einen ersten Riss informiert sei, habe er den Befund erst elf Tage später der

Öffentlichkeit bekannt gegeben. Noch am 19. Oktober hatte der hessische

Ministerpräsident Roland Koch Biblis besucht und sich anschließend für den

ungestörten Weiterbetrieb der Anlage ausgesprochen. Der CDU-Politiker Dietzel sagte,

er habe den Ministerpräsidenten über die Risse erst am 23. Oktober informiert. Dies sei

ein Fehler gewesen, sagte der Umweltminister.

 

Der Grünen-Abgeordnete Alexander Müller warf dem Umweltminister vor, er setze

"Atomnachsicht" an die Stelle von Atomaufsicht: "Die Risse räumen endgültig auf mit der

Legende, Atomkraftwerke seien sicher zu betreiben." Der SPD-Abgeordnete Sieghard

Pawlik sagte, der in Biblis aufgetauchte Befund habe weit reichende Konsequenzen für

den Betrieb aller deutschen Kernkraftwerke.

 

Bereits 1992 waren bei einer Ultraschallüberprüfung der Schweißnaht Schäden

angezeigt worden. Die angezeigten Risse waren damals aber als Messfehler

interpretiert worden. Nach Ansicht von Umweltschützern zeigt die späte Entdeckung der

drei Rissen im Hauptkühlsystem des Kraftwerks das Versagen aller

Sicherheitsverantwortlichen. Dieser Vorwurf richte sich an Gutachter des TÜV, Experten

der Betreiberfirma RWE und die alte Reaktor-Sicherheitskommission (RSK), heißt es in

einem Schreiben des hessischen BUND und des Bundesverbandes Bürgerinitiativen

Umweltschutz (BBU) an Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne). Es sei nicht

auszuschließen, dass auch an den anderen deutschen Atomkraftwerken unsichere

Messmethoden angewendet wurden, fürchten die Umweltschützer. Deshalb müsse

eine Arbeitsgruppe gebildet werden, um etwaige Risiken schnellstens aufzuspüren.

 

Trittin wies unterdessen Vorwürfe aus der Stromindustrie zurück, er verstoße gegen den

vor vier Monaten vereinbarten Konsens zum Atomausstieg. Trittin sagte am Donnerstag

im MDR: "Ich gehe davon aus, dass wir Punkt für Punkt den Atomkonsens umsetzen."

Der Grünen-Politiker reagierte damit auf Vorwürfe des E.on-Vorstands Walter

Hohlefelder. Dieser hatte in einem Brief an Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier

(SPD) kritisiert, Trittins Entwurf für die Neufassung des Atomgesetzes entspreche in

wesentlichen Teilen nicht den Vereinbarungen. Der Minister wolle "durch die Hintertür"

doch einen Nachweis für die schadlose Verwertung von Atommüll, zitierte die

"Süddeutsche Zeitung" aus dem Schreiben. Trittin sagte dazu, Hohlefelder habe beim

Atomkonsens mit eigener Hand paraphiert, dass die Konzerne die Verwertung des

Atommülls sicherstellen. Dies sei auch schon heute die Rechtslage. Der E.on-Konzern

bestätigte den Brief Hohlefelders an Steinmeier. In der Zwischenzeit hätten allerdings

"zwei konstruktive Gespräche" mit der Bundesregierung stattgefunden, hieß es.

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Schwäbische Donauzeitung 03.11.2000

Entsorgung / Brisante Lage im Land

 

Erst verstopft, dann stillgelegt

 

Ob Philippsburg oder Neckarwestheim, die Situation ist überall gleich prekär: Wenn

die beiden Atomkraftwerke ihren strahlenden Müll nicht bald los werden, müssen sie

in einem halben Jahr den Betrieb einstellen. Der Verstopfung folgt die Stilllegung.

 

HANS GEORG FRANK

 

¸¸Durch die Verschleppungsstrategie der Bundesregierung ist eine unverantwortliche

Situation entstanden'', schimpft Baden-Württembergs Umweltminister Ulrich

Müller. Der Christdemokrat kritisiert die rot-grüne Bundesregierung, weil in den

Atomkraftwerken Philippsburg (Kreis Karlsruhe) und Neckarwestheim (Kreis

Heilbronn) trotz Transportgenehmigung die Container mit ausgemusterten

Uranstäben nicht vom Hof rollen.

 

Die Gegner frohlocken

 

Diese Art der Verstopfung sei ¸¸ziemlich beschissen'', frohlocken Atomgegner.

Tatsächlich müssen die Manager in den Kernkraftwerken ein Rennen gegen die Zeit

machen. Vor der nächsten Revision der Reaktoren im Mai 2001 müssen die Altlasten

weggeschafft sein: Neue Brennelemente können nur installiert werden, wenn die

verbrauchten zuvor in die Abklingbecken abgetaucht sind. Aber diese Bassins sind

jetzt voll.

 

In Neckarwestheim, im früheren Steinbruch am Neckar, sind schon seit einigen

Monaten sechs Castoren mit insgesamt 114 Brennelementen reisefertig. Ihr Ziel ist

das Zwischenlager in Ahaus. Über einen Termin für die Abfahrt mit gigantischer

Polizeieskorte entlang der 500 Kilometer langen Strecke ist der Geschäftsleitung

nichts bekannt. Zunächst war erwartet worden, dass sich der brisante Konvoi

spätestens im November in Bewegung setzt. Doch davon ist jetzt keine Rede mehr.

Unklar ist auch, wann ein halbes Dutzend weiterer Castoren etwas anderer Bauart

mit radioaktiver Fracht zur Wiederaufarbeitung ins britische Sellafield gekarrt werden

kann. Für die Container verweigern französische Behörden bislang den Transit.

 

Auf der Rheinschanzinsel bei Philippsburg sind die Castoren noch gar nicht beladen,

weil Probleme mit der Abdichtung aufgetreten sind. Jetzt wartet die

Kraftwerksleitung auf eine neue Technik, die freilich einer besonderer Genehmigung

bedarf. ¸¸Wir wollen ein zuverlässiges Verfahren'', betonte Stephan Gabard, der für

Kraftwerke zuständige Sprecher der Energie Baden-Württemberg (ENBW).

 

Den Philippsburgern wurde bislang nur die Müllabfuhr in zwei Castoren genehmigt -

ein Tropfen auf den heißen Stein. In einem der Spezialcontainer haben maximal

20Brennelemente Platz. In den beiden Meilern KKP 1 und KKP 2 werden bei der

Revision jedoch 150 Brennelemente ausgewechselt. Darf der Castor endlich rollen,

kann er erst nach sechs Wochen erneut benutzt werden, weil aufwändige

Reinigungsprozeduren nötig sind.

 

Auswege aus der misslichen Lage suchen die Betreiber mit ¸¸Interimslagern'' für

jeweils 24 Castoren. Diese sollen dort etwa fünf Jahre in garagenähnlichen Kästen

aus Stahlbeton geparkt werden. In Neckarwestheim hat das Bundesamt für

Strahlenschutz (BfS) bereits eine Anhörung der über 4000 Einwendungen

durchgeführt, in Philippsburg werden die mehr als 5000 Einsprüche jetzt erörtert.

Eine Entscheidung wird in diesem Jahr aber nicht mehr erwartet. Gegen den Spruch

des BfS kann geklagt werden, wodurch das Interimslager weiter verzögert würde.

 

An beiden Atomstandorten sollen zudem Zwischenlager entstehen - für 152 Behälter

in Philippsburg und 169 in Neckarwestheim. Dort könnte der gefährliche Abfall 40

Jahre strahlen, falls dann das seit langem versprochene zentrale Endlager zur

Verfügung steht.

 

Obrigheim ist gut dran

 

Der älteste kommerzielle Atommeiler im Land in Obrigheim hat indes keine

Probleme mit dem radioaktiven Abfall. Neben dem Reaktor existiert seit über einem

Jahr das erste Zwischenlager in Deutschland. In 500 Kubikmeter destilliertem

Wasser haben 980 Brennelemente Platz. Die Kapazität reicht für eine Laufzeit bis

zum Jahr 2010.

 

Das Bassin - elf Meter tief, zwölf Meter breit, 5,5 Meter lang - hat 40Millionen

Mark gekostet. Der Gebäudeteil ist mit einer zusätzlichen Schutzwand, 1,5 Meter

dick und 15Meter hoch, gegen abstürzende Flugzeuge verstärkt worden. Die

Genehmigung ist auf Brennelemente aus Obrigheim beschränkt. Damit ist ein

zentrales Zwischenlager für Süddeutschland ausgeschlossen.

 

INFO

 

Mit jeweils zwei Reaktoren erzeugen die Atomkraftwerke in Philippsburg und in

Neckarwestheim zwei Drittel des Energiebedarfs von Baden-Württemberg.

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