HANDELSBLATT, 14 Juli 2000
Aufschwung der Gaswirtschaft
Atomkonsens bereitet der Energiebranche keine Probleme
Der zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft gefundene
Atomkonsens löst aus Sicht der Branche einige Probleme. Die an den
Gesprächen beteiligten Unternehmen begrüßten vor allem die
Planungssicherheit, die ihnen der gefundene Kompromiss bietet.
Erleichterung herrscht auch über die Lösung der Frage des Atommülls.
Reuters DÜSSELDORF. RWE-Chef Dietmar
Kuhnt hatte wiederholt vor einem
Entsorgungsinfarkt gewarnt und von einer
"Zeitbombe" in dieser Frage gesprochen. Der
Konsens legt für die 19 deutschen
Atomkraftwerke die Menge Atomstrom fest, die
noch produziert werden darf, erlaubt die freie
Verteilung der Kontingente auf die Kraftwerke
und regelt die Entsorgungsfrage.
Direkten wirtschaftlichen Schaden fügt der
Atomkonsens den deutschen Energieversorgern
offenbar erst einmal nicht zu. Über einen
Zeitraum von 32 Jahren - der sich aus der
Umrechnung der Strommengen auf die
Betriebsdauer der Anlagen ergibt - könne es in
der Energiewirtschaft viele, heute nicht
vorhersehbare Entwicklungen geben, heißt es in
den Konzernen. So sei beispielsweise der
Aufschwung, den gegenwärtig die Gaswirtschaft
nehme, auch nicht in diesem Ausmaß
vorhergesehen worden. Mit jedem vom Netz genommenen Kernkraftwerk
entsteht den Besitzern insofern aber ein Schaden, als die Anlagen dann meist
schon Jahre lange abgeschrieben sein dürften, Strom daher sehr kostengünstig
produziert werden kann.
RWE stellt nach Angaben eines Sprechers bereits "Probeplanungen" auf,
welche Menge Atomstrom von welchem Kraftwerk bis wann erzeugt werden soll.
Konkretes wollte er aber noch nicht sagen. Der künftige Fusionspartner VEW
war da schon deutlicher. Sein Kraftwerk Emsland in Lingen dürfte das letzte
sein, das vom Netz geht, hieß es in Dortmund. Die Lingen zugeteilte
Strommenge bedeute noch eine Laufzeit von 22 Jahren. RWE plane aber,
einen Teil des für den Verzicht auf die Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks
Mülheim-Kärlich ausgehandelten Stromkontingents auf Lingen zu übertragen.
Damit dürfte sich die Laufzeit von 22 Jahren noch verlängern.
RWE-Energie-Vorstand Gerd Jäger kündigte in Mülheim-Kärlich an, in Kürze
einen Antrag auf Stilllegung des Kraftwerks zu stellen.
RWE betreibt noch je zwei Reaktorblöcke in Biblis und in Gundremmingen. Nach
den nunmehr für jedes Kraftwerk festgelegten Strommengen würden Biblis A im
Jahr 2008 und Biblis B zwei Jahre später vom Netz gehen. Gundremmingen
müsste, wenn die Kontingenten nicht anders verteilt werden, 2017 und 2018
abgeschaltet werden. Der Kernenergieanteil am Gesamtstromaufkommen des
größten deutschen Energieversorgers beträgt gut 20 % und ist damit von den
großen Atomstromerzeugern der geringste.
Bei der Düsseldorfer Veba will man noch nicht sagen, inwieweit bereits
Verteilungs-Szenarien entwickelt werden. Es wird aber darauf verwiesen, dass
sich in den Konsensgesprächen schon seit längerem eine Lösung über
Mengenkontingente abzeichnete und man daher schon hin- und her gerechnet
habe. Veba kommt bei ihrer Energie-Tochter PreussenElektra derzeit auf einen
Kernenergieanteil an der gesamten Stromproduktion von rund 46 %. Bei der
Viag-Tochter Bayernwerk liegt dieser Anteil bei rund 60 %. Viag und Veba
werden in Kürze fusionieren.
Den größten Kernenergieanteil hat die Hamburger HEW AG mit rund 76 %. Ein
Ausstieg aus der Kernenergie trifft dieses Unternehmen mithin schwerer als
solche mit vergleichsweise geringem Atomenergie-Anteil. Die HEW war nicht zu
den Konsensgesprächen eingeladen gewesen. Das hatte von Anfang an zu
einer Mißstimmung innerhalb der Atomwirtschaft geführt. An den eineinhalb
Jahre laufenden Konsensgesprächen beim Bundeskanzler waren die Chefs der
vier größten deutschen Energieunternehmen, RWE, Veba, Viag und EnBW
Energie Baden-Württemberg beteiligt gewesen. HEW begrüßte daher die
Einigung zwar grundsätzlich, weil sie Planungssicherheit gebe. Man behalte sich
aber eine eigenständige Entscheidung noch vor, hieß es.
Allen Unternehmen gemeinsam ist die Erleichterung über die Lösung der Frage
des Atommülls sein. Im Herbst sollen die Transporte wieder aufgenommen
werden, die monatelang verboten waren. Beschlossen wurde auch, bis
spätestens 2005 auf Atommülltransporte in Wiederaufbereitungsanlagen zu
verzichten. Stattdessen soll zügig mit dem Aufbau von Zwischenlagern an den
Kraftwerken begonnen werden.
HANDELSBLATT
Bittere Pille für die Grünen
Kurt Beck erleichtert - Gezerre um AKW "Mülheim-Kläglich" zu Ende
Um kein deutsches Atomprojekt ist länger und hartnäckiger gerungen
worden als um den 1.300-Megawatt-Reaktor im Neuwieder Becken.
Unzählige Gutachten und Gegengutachten wurden erstellt, ganze Heere von
Rechtsanwälten aufgeboten. "Mühsam-Kläglich" heißt das Atomkraftwerk
schon lange im Volksmund.
dpa/ap MAINZ. Der rheinland-pfälzische
Ministerpräsident Kurt Beck hat den in der Nacht
erreichten Atomkonsens als historische
Entscheidung bezeichnet. "Die Vereinbarung
bedeutet das endgültige Aus für den
Atomkraftwerksstandort Mülheim-Kärlich", hieß es
am Donnerstag in einer Erklärung der
Staatskanzlei in Mainz. Auch die rheinland-
pfälzische Umweltministerin Klaudia Martini (SPD)
hat die Einigung über den Ausstieg aus der
Atomenergie Als «Sieg der Vernunft»
bezeichnet. Im Rahmen des Atomkonsenses
zwischen Bundesregierung und Stromwirtschaft
wurde das endgültige Aus für die Anlage der
RWE Energie AG vereinbart, womit auch die
juristischen Auseinandersetzungen ein Ende
finden.
Kurt Beck dankte Bundeskanzler Gerhard
Schröder für die Verhandlungsführung. "Es ist gelungen, in einer Frage, die
unsere Gesellschaft jahrzehntelang gespalten hat und tiefe Kluften gerissen
hat, zu einer konsensualen Lösung zu finden", erklärte der SPD-Politiker. Das
Ergebnis bedeute auch gesellschaftliche Versöhnung. Das 1975 errichtete
Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich liegt seit 1988 still, nachdem das
Bundesverwaltungsgericht die Erste Teilgenehmigung der damaligen
Landesregierung von Helmut Kohl aus dem Jahr 1975 aufgehoben hatte.
Der Vorstandssprecher der rheinland-pfälzischen Grünen, Reiner Marz, hat
dagegen den Atomausstieg kritisiert. Der Kompromiss biete in der Substanz zu
wenig, sagte Marz in Koblenz. Für eine Partei, die mit der Aussage angetreten
sei, dass jeder Tag der Nutzung der Atomenergie zu viel sei, stelle eine
Gesamtlaufzeit von 32 Jahren eine bittere Pille dar.
Das einzige rheinland-pfälzische Atomkraftwerk in Mülheim-Kärlich bei Koblenz
lieferte nur 13 Monate lang Strom. Die 1975 errichtete Anlage wurde als erster
deutscher Reaktor aus Rechtsgründen still gelegt.
Nach langem Rechtsstreit war der Reaktor im März 1986 in Betrieb genommen
worden. Im September 1988 wurde die Anlage auf Verfügung des
Bundesverwaltungsgerichts schon wieder abgeschaltet. Bis zu diesem Zeitpunkt
hatte der sieben Mrd. DM teure 1 300-Megawatt- Reaktor - mit einer langfristigen
Unterbrechung für eine gerichtlich angeordnete Nachrüstung - insgesamt nur
etwa 13 Monate lang Strom geliefert, davon elf Monate im regulären Vollbetrieb.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte die so genannte Erste Teilgenehmigung
(1. TG) von 1975 für rechtswidrig erklärt, weil Sicherheitsfragen im Hinblick auf
den Vulkanismus in der Eifel und die Erdbebengefahr im Rheingraben
unberücksichtigt geblieben seien. Die frühere CDU-Landesregierung in
Rheinland-Pfalz versuchte 1990, die Abschaltung des einzigen Atomkraftwerks
im Land mit einer neuen 1. TG aufzuheben. Die Gegner erreichten vor Gericht
eine Aufhebung, so dass Mülheim-Kärlich nicht wieder ans Netz ging.
HANDELSBLATT, Donnerstag, 15. Juni 2000
Nach dem Ausstiegs-Kompromiss
Scharfe Kritik von Union und Umweltverbänden an Atomkompromiss
dpa/afp - Die Vereinbarung von
Bundesregierung und Industrie über einen
Ausstieg aus der Atomkraft ist sowohl bei der
Union als auch bei den Umweltverbänden auf
scharfe Kritik gestoßen. Der Chef der Bayrischen
Staatskanzlei, Erwin Huber (CSU), sprach am
Donnerstag im ZDF-Morgenmagazin von einem
"schwarzen Tag" und einem "historischen Tag im
negativen Sinne". Der Bund für Umwelt und
Naturschutz in Deutschland (BUND) und
Greenpeace kritisierten, dass es jetzt eine "Bestandsgarantie" für die
Kernkraftwerke gebe und der Einfluss auf die Sicherheit drastisch eingeschränkt
worden sei.
In der Nacht zum Donnerstag hatten Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD)
und die Chefs der vier größten Energieunternehmen einen Konsens über den
Atomausstieg erzielt. Sie verständigten sich auf eine Gesamtlaufzeit der 19
arbeitenden Anlagen von insgesamt 32 Jahren. Die der Industrie zugebilligte
Gesamtmenge an Atomstrom entspricht nach Darstellung Schröders einer
Laufzeit von 32 Kalenderjahren. Auf Transporte zur Wiederaufarbeitung von
Atommüll im Ausland solle vom 1. Juli 2005 verzichtet werden. Stattdessen ist
geplant, Zwischenlager an den Standorten der Meiler zu bauen.
Huber sieht in dem Kompromiss "gewaltige Nachteile" in den Fragen
Versorgungs- und Entsorgungssicherheit. Bei einer Regierungsübernahme
durch die CDU/CSU werde die Union die Entscheidung rückgängig machen. Der
CSU-Politiker kritisierte insbesondere, dass statt der bisher zwei insgesamt 19
Zwischenlager entstehen sollen, zu deren Bau die einzelnen Gemeinden noch
ihre Zustimmung geben müssten. Es sei völlig unmöglich, dass der Müll in
"vorläufigen Hallen" vorübergehend gelagert werden solle.
Führende Vertreter der Grünen haben den Atomkonsens zwischen
Bundesregierung und Energiekonzernen verteidigt. Es sei für «alle Seiten» ein
schwieriger Kompromiss gewesen, sagte Umweltminister Jürgen Trittin am
Donnerstag im Südwestrundfunk. Er halte ihn aber für «letztlich vertretbar».
Grünen-Chefin Gunda Röstel sprach von einem Schritt in die richtige Richtung.
Eine absolute Zufriedenheit gebe es bei einem Kompromiss nie, sagte sie Radio
Eins. Umweltverbände
Trittin zeigte sich optimistisch, dass seine Partei den Konsens als Erfolg
bewerten werde. Schließlich sei das Ziel, der Ausstieg aus der Atomenergie,
erreicht worden. Durch das Festschreiben als Gesetz seien Klagen etwa durch
ein Bundesland ausgeschlossen. Röstel verwies auf die positiven
Folgewirkungen für Alternativ-Technologien und dadurch entstehende
Arbeitsplätze. Ob der Kompromiss reiche, müsse aber jetzt von den Gremien
bewertet werden.
Nordrhein-Westfalens Umweltministerin, die Grünen-Politikerin Bärbel Höhn,
äußerte sich im Deutschlandfunk zufrieden, dass der Ausstieg nun auch wirklich
in die Tat umgesetzt und nicht durch Gerichtsklagen hinausgezögert werden
könne. Zugleich verwies sie auf die Vorbildfunktion dieses Schrittes: "Der
Atomausstieg ist ein enorm wichtiges politisches Zeichen. Damit steigt immerhin
die größte Industrienation der Europäischen Union aus der Atomkraft aus."
Virtuelles Kraftwerk Mülheim-Kärlich
Für den VIAG-Vorstandsvorsitzenden Wilhelm Simson, der an den
Verhandlungen beteiligt war, ist mit dem Konsens nicht das Ende der
Atomenergie in Deutschland eingeläutet. Im Deutschlandfunk sagte er: "Wir
haben nicht den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, sondern eine
Laufzeitbegrenzung unserer existierenden Kernkraftwerke." Wann das letzte
Kernkraftwerk abgeschaltet werde, sei auch überhaupt noch nicht absehbar,
weil es die Möglichkeit der Stromübertragung gebe.
So wird beispielsweise die Stilllegung des Kraftwerks Mühlheim- Kärlich
(Rheinland-Pfalz) von dem Energieversorger RWE akzeptiert. Im Gegenzug
erhält RWE von der Regierung eine Strommenge gutgeschrieben, die einer
Nutzung des Kernkraftwerks von elf Jahren entspricht. Diese Menge darf auf
andere Anlagen übertragen werden.
Die BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt kritisierte im DeutschlandRadio: "Die
AKW behalten die steuerlichen Privilegien, die sie jetzt schon haben, und das
Papier enthält eine Absage an eine Erneuerung der Sicherheitsstandards." Die
Energieexpertin von Greenpeace, Susanne Ochse, sieht den Einfluss der
Bundesregierung auf die Sicherheit der Atomkraftwerke drastisch eingeschränkt.
"Nach einem Störfall oder bei verstrahlten Castor-Behältern wird die Regierung
künftig kaum noch eigenständig Verbesserungen der Sicherheit anordnen
können, sondern muss sich mit den Verursachern einigen", erklärte Ochse. Für
beide Sprecherinnen fällt der Kompromiss - mit einer Laufzeit von 32 Jahren plus
der Übertragung von Mengen - zu Gunsten der Energiekonzerne aus.
HANDELSBLATT, Donnerstag, 15. Juni 2000
Atomkraftwerke in Deutschland - eine Übersicht
are. Vier große Anbieter betreiben in
Deutschland Atomkraftwerke: die EnBW Energie
Baden-Württemberg AG, die RWE Energie AG,
und die vor der Fusion stehenden Konzerne
VEBA und VIAG, die im Sommer zu E.ON
verschmelzen wollen. Die HEW Hamburgischen
Elektrizitätswerke sind nur am KKW Krümmel
beteiligt.
Die ostdeutschen Meiler in Lubmin am
Greifswalder Bodden und im brandenburgischen
Rheinsberg wurden wegen des hohen Sicherheitsrisikos nach der Wende vom
Netz genommen. Das fast fertig gestellte Kernkraftwerk nahe Stendal in
Sachsen-Anhalt ging niemals in Betrieb, obwohl in dem Projekt schon eine Mrd.
DDR-Mark steckten.