14 Jahre nach Tschernobyl leiden Millionen Menschen
Kiew/Moskau. Die Ukraine, Russland und Weißrussland haben gestern der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl vor
14 Jahren gedacht. In Kiew sagte der ukrainische Präsident Leonid Kutschma zwar die Schließung des letzten
Reaktorblocks in Tschernobyl zu, ein genaues Datum gebe es aber nicht. Die Ukraine verlangt vom Westen
Finanzhilfen zur Fertigstellung zweier neuer Reaktoren in den Kernkraftwerken Rowno und Chmelnizki.
In Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 das schlimmste Unglück in der zivilen Nutzung der Kernenergie, als
ein Reaktorblock explodierte und tödliche Strahlung freisetzte. Die Strahlenwolke verteilte sich über ganz Europa.
Im Grenzgebiet von Ukraine, Russland und Weißrussland mussten Zehntausende ihre Heimat verlassen. Der russische
Vizeregierungschef Sergej Schoigu sagte, von 860 00 Menschen, die bei den Lösch- und Aufräumarbeiten eingesetzt
wurden, seien 55 000 gestorben.
Nach einer Uno-Untersuchung leiden über sieben Millionen Menschen unter den Folgen der Verstrahlung. Viele der
drei Millionen Kinder, die behandelt werden, müssen frühzeitig sterben. Dazu gehören auch Kinder von Betroffenen.
In Weißrussland - am schlimmsten verstrahlt - setzt der autoritäre Präsident Alexander Lukaschenko jedoch wieder auf
eine Besiedelung der Todeszone. Wer aus anderen GUS-Staaten in diese Region umsiedele, erhalte "binnen einer
Woche" die weißrussische Staatsangehörigkeit, sagte er.
Die Bundesregierung hat für Juli 60 Länder zu einer Konferenz eingeladen, um Geld für die Erneuerung der
brüchigen Schutzhülle um den zerstörten Reaktorblock in Tschernobyl zu finden. (dpa/ap)
14. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe
Kiew/Moskau (dpa) - Die Ukraine, Russland und Weißrussland haben am Mittwoch den 14.
Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit Kranzniederlegungen und
Gedenkveranstaltungen begangen. Umweltschützer in Moskau protestierten gegen Atomkraft
und gegen angebliche Regierungspläne, ausländischen Atommüll in Russland endzulagern.
In Kiew sagte der ukrainische Präsident Leonid Kutschma, es gebe immer noch kein genaues
Datum für die Schließung des letzten Reaktorblocks in Tschernobyl. Dieser dritte Block liefert
sporadisch noch Strom und soll nach früheren Zusagen Kutschmas bis Ende 2000 endgültig
abgeschaltet werden.
Kutschma sagte nach Angaben der Agentur Itar-Tass: «Wir sind bereit, ihn zu schließen, aber es
gibt eine Reihe von Bedingungen, die nicht von uns abhängen.» Die Ukraine verlangt vom
Westen Finanzhilfen zur Fertigstellung zweier neuer Reaktoren in den Kernkraftwerken Rowno
und Chmelnizki.
In Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 das bislang schlimmste Unglück in der zivilen
Nutzung der Kernenergie, als der vierte Reaktorblock des Atomkraftwerks nördlich von Kiew
explodierte und tödliche Strahlung freisetzte. Die Strahlenwolke verteilte sich über ganz Europa.
Am schlimmsten wurde jedoch das Grenzgebiet zwischen der Ukraine, Russland und
Weißrussland verstrahlt. Dort mussten Zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen. In den
Tagen und Jahren nach der Katastrophe starben Hunderte von Helfern, die einen Betonmantel
um den Unglücksreaktor errichtet hatten. Doch Experten streiten, ob die Auswirkungen des
Unglücks auf die Volksgesundheit in den drei Ex- Sowjetrepubliken messbar sind.
Der russische Vizeregierungschef Sergej Schoigu sagte am Mittwoch, von insgesamt 860 00
Menschen, die bei den Lösch- und Aufräumarbeiten eingesetzt worden, seien 55 000
gestorben. Davon seien 15 000 Russen gewesen. Auffällig ist die hohe Selbstmordrate von
mehr als einem Drittel bei diesen Todesfällen. Nachweislich zugenommen haben auch die Fälle
von Schilddrüsenkrebs und Leukämie in der Region.
Der russische Präsident Wladimir Putin schrieb in einem Beileidstelegramm an den Verband der
russischen Tschernobyl-Opfer: «Es ist die heilige Pflicht des Staates, für einen ungefährlichen
Nuklearbetrieb zu sorgen, eine Wiederholung des Albtraums von Tschernobyl auszuschließen.»
In Weißrussland, das am schlimmsten verstrahlt wurde, setzt der autoritär regierende Präsident
Alexander Lukaschenko inzwischen jedoch wieder auf eine Besiedelung der evakuierten
Gebiete. Wer aus anderen GUS-Staaten in diese Region umsiedele, solle «binnen einer
Woche» die weißrussische Staatsangehörigkeit erhalten können, sagte er am Mittwoch bei
einem Besuch in der so genannten Todeszone.
In der Ukraine werden offiziell etwa 3,5 Millionen Menschen als Opfer von Tschernobyl geführt,
unter ihnen auch Kinder von Betroffenen. Die ukrainische Gesetzgebung gewährt den
«Tschernobylzi» einen ähnlichen Status und ähnliche Privilegien wie Kriegshelden.
Die Bundesregierung hat für Juli 60 Länder zu einer Geberkonferenz nach Berlin eingeladen,
um Gelder für eine neue Schutzhülle um den zerstörten vierten Reaktorblock in Tschernobyl zu
finden. Die 1986 errichtete Hülle ist brüchig und nicht strahlendicht. Die Blöcke eins und zwei
sind bereits stillgelegt worden.
Bernner Zeitung 27. April 2000
Tschernobyl: Mahnmal für die Welt
Am 26. April 1986 hat sich das bisher schwerste Unglück in der zivilen Nutzung der Kernenergie ereignet.
Tschernobyl bedeutet: Selbstüberschätzung und Schlamperei sind nicht auf die Ukraine beschränkt.
*Martin Urban
Was geht uns Tschernobyl an - 14 Jahre danach? Es beweise nicht die Gefahren der Atomkraft, sondern des
Sowjetsystems, hiess es in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum zehnjährigen Gedenken an die
weltgrösste zivile Nuklearkatastrophe. Einem solchen Fazit dürften die Betreiber von Atomanlagen in Ost und
West auch heute begeistert zustimmen. Doch genau ein solches Weltbild macht die Kernenergie so gefährlich.
Natürlich gibt es systembedingte Gründe für den Verlauf der Katastrophe. Aber Selbstüberschätzung,
Schlamperei und Inkompetenz, die den GAU im jüngsten Block des Atomkraftwerks Tschernobyl am 26. April
1986 in der ukrainischen Sowjetrepublik verursachten, sind in allen Sozialsystemen verbreitete menschliche
Eigenschaften. ImZusammenhang mit der Kernenergie wurde das in jüngster Zeit in so unterschiedlichen
Kulturkreisen wie Japan und Grossbritannien deutlich. Es ist nicht das Verdienst der japanischen
Energiewirtschaft oder der staatlichen Atomaufsicht, dass die Folgen der jüngsten Unfälle dort nicht
schwerwiegender sind.
Das Sprichwort «Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige» ist nicht auf den Betrieb hochkomplizierter
technischer Anlagen anzuwenden. Hier gilt viel eher Murphys Gesetz: «Was immer schief gehen kann, geht
irgendwann einmal schief.»
Machbarkeitswahn
Die Propagandisten der Atomenergie erklären das Ereignis von Tschernobyl für einmalig - und verharmlosen
gleichzeitig seine Auswirkungen. Dabei arbeiten sie weltweit effektiv zusammen, unterstützt von Institutionen
wie der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA). Denn die Einstellung: «Dem Ingenieur ist nichts zu
schwer» ist trotz gegenteiliger Erfahrungen nicht aus den Hirnen der Techniker zu treiben, ob sie nun
Staudämme planen, Raketenabwehrsysteme à la SDI oder den neuen Menschen. Der Machbarkeitswahn ist
universell verbreitet.
Die Erfahrungen in der Umgebung von Tschernobyl bestätigen, was seriöse Strahlenbiologen erwartet haben:
Die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern, der normalerweise sehr selten vorkommt, zeigte in den
Hauptbelastungsgebieten 1995 ein Maximum und nimmt seither ab. Nicht, weil das Risiko geringer wird,
sondern weil die überlebenden Kinder erwachsen werden. Unter den Erwachsenen ist die Anzahl der
jährlichen Neuerkrankungen bis zur Jahrtausendwende bereits auf das Sechsfache des Mittelwerts aus dem
Jahrzehnt vor 1986 angestiegen, besonders in der Altersstufe unter 40Jahren.
Allein von den Kindern in der besonders belasteten Region Gomel in Weissrussland, die zur Zeit der
Reaktorkatastrophe höchstens vier Jahre alt waren, wird nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation
WHO jedes dritte im Laufe seines Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken.
Krebserkrankungen
In der Ukraine sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Kiew etwa 3,5 MillionenMenschen infolge
der Katastrophe vor 14 Jahren an Krebs erkrankt. Wie zuverlässig diese Angaben sind, ist schwer
einzuschätzen; hier spielen auch materielle Interessen eine Rolle.Aber die Zahl belegt zumindest eine
Tendenz. 1991 hatte die IAEA als Ergebnis ihrer Untersuchungen der staunenden Welt mitgeteilt: «Es gab
keine Gesundheitsstörungen, die direkt einer Strahlenbelastung zugeordnet werden konnten.»
Noch immer laufen an drei Standorten in Russland elf Blöcke von Atommeilern des Tschernobyl-Typs. Wenn
man nur die Lecks in den Erdöl-Pipelines des Landes abdichten würde, könnte man sie wohl getrost
abschalten.*
Der Tagesspiegel
vom 27. April 2000
Tschernobyl-Jahrestag
Ohne Augenmaß (Kommentar) cvm
Wenn der GAU von Tschernobyl sich nicht
wiederholt, dann kann man allein dem Himmel
dafür danken. Der Politik jedenfalls nicht. Auch 14
Jahre nach der Katastrophe ist das marode
Atomkraftwerk noch am Netz. Dies ist ein
Lehrbeispiel dafür, wie wichtig Augenmaß in den
internationalen Beziehungen ist: Augenmaß für das
Machbare wie für den richtigen Zeitpunkt.
Tschernobyl ersatzlos abschalten, das ging nicht.
Schließlich wurde der Strom auch für den
Aufschwung gebraucht. So wuchs die westliche
Bereitschaft, andere - sichere - Energiequellen zu
finanzieren. Doch manche wollten zu viel: nämlich
der Ukraine den Ausstieg aus der Kernkraft
diktieren. In der Ukraine war es eine Mischung aus
Lethargie und Fatalismus sowie der Lust, das
Erpressungspotenzial zu nutzen: Wie viele
Milliarden für andere Stromquellen würde sich der
Westen die Schließung von Tschernobyl kosten
lassen? So muss man am 14. Jahrestag des GAUs
wohl am ehestens darauf bauen, dass die Pannen
in dem altersschwachen Reaktor derart zunehmen,
dass sich der Betrieb bald nicht mehr rentiert - und
darauf hoffen, dass der Himmel es weiter so gut
mit Europa meint.
Badische Zeitung 28.04.2000
Weniger AKW geplant
Japan: Zweiter Toter nach Atomunfall
Von unserer Korrespondentin Angela Köhler
TOKIO. Der schwerste Atomstörfall Japans hat ein zweites Todesopfer gefordert. Sieben Monate nach dem Unglück in der Uranverarbeitungsanlage von Tokaimura
ist am Donnerstag ein weiterer Arbeiter an den Folgen radioaktiver Verstrahlung verstorben. Ein Kollege war bereits im Dezember an den Unfallfolgen gestorben.
Gemeinsam mit einem dritten Angestellten hatten die beiden eine unkontrollierte nukleare Kettenreaktion ausgelöst, als sie &endash; völlig gegen die Vorschriften &endash; per
Hand 16 Kilogramm Uran statt der erlaubten 2,4 Kilogramm in einen Behälter füllten.
Nach dem Schock von Tokaimura ordnete Japans Regierung landesweite Inspektionen an, die ergaben, dass in jeder zweiten Fabrik zur Herstellung von
Nuklearbrennstoffen geschlampt wird und die Behörden die Anlagen nur halbherzig kontrolliert hatten. Die Bewohner mehrerer Präfekturen lehnten daraufhin in
Volksentscheiden oder bei Wahlen den Neu- oder Ausbau von AKW-Installationen ab. Nun hat Japans Regierung die Pläne für den Neubau von Kernkraftwerken
jetzt erst einmal reduziert. Nun sollen bis 2010 nur noch 13 AKW gebaut werden, ursprünglich waren 16 bis 20 geplant.