Berliner Zeitung 17.04.2000
Atomausstieg
Verhandlungen in der Schlussphase
Seit 16 Monaten verhandelt die Regierung mit den Energieversorgern über den Ausstieg aus der
Atomenenergie. CDU und CSU lehnen den Ausstieg ab.
Bis zum Sommer sollen die Gespräche abgeschlossen sein. Nach Auffassung von Umweltminister Trittin befinden sich die Verhandlungen in der Schlussphase.
Umstritten sind noch immer die so genannten Restlaufzeiten der Atomkraftwerke. SPD und Grüne haben sich auf eine Gesamtlaufzeit von 30 Jahren geeinigt.
Grüne sollen längerer Meiler-Laufzeit zustimmen
Regierung und Stromkonzerne steuern nur theoretischen Wert von 30 Jahren an
von M. Krupa und H. Munsberg
BERLIN, 16. April. Die Grünen müssen sich beim Atomausstieg auf eine
Gesamtlaufzeit der Reaktoren von deutlich über 30 Jahren einstellen. Das zeichnet
sich nach Informationen der "Berliner Zeitung" bei den
Energiekonsensgesprächen mit der Stromwirtschaft ab. Die Bundesregierung will
den Energiekonzernen eine Rest-Atomstrommenge zugestehen, die zwar
rechnerisch einer Gesamtlaufzeit aller 19 Reaktoren von im Schnitt 30 Jahren
entspricht. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine theoretische Größe: Die
Verfügbarkeit der Meiler wird mit annähernd 100 Prozent angesetzt.
Mit dieser Regelung wären auch die Stromkonzerne einverstanden, weil auf diese
Weise Kalenderjahre mit so genannten Volllastjahren gleichgesetzt werden. Bisher
hatten die Grünen 30 Kalenderjahre, die Konzerne dagegen 35 Volllastjahre
gefordert. In der Realität hängen die Meiler im Schnitt jedoch nur zu 85 Prozent
am Netz, weil sie einmal im Jahr zum Brennstabwechsel und zu Sicherheitschecks
heruntergefahren werden müssen. Deshalb läuft der zwischen Regierung und
Konzernen angepeilte Kompromiss in der Praxis auf eine Gesamtlaufzeit weit
über 30 Jahre hinaus.
Hinzu kommt, dass auch der Meiler Mülheim-Kärlich noch in die Rechnung
einbezogen werden soll. Der Reaktor des Stromkonzerns RWE war wegen
Erdbebengefahr nur knapp ein Jahr am Netz. Würde die verbleibende
Strommenge von 29 Jahren aufgeschlagen, so erhöhte sich die Laufzeit der
übrigen Reaktoren um mehr als ein Jahr. Bei der geplanten Abschlussrunde
zwischen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und den Chefs der Stromkonzerne
RWE, Veba, Viag und Energie-Baden-Württemberg muss deshalb auch geklärt
werden, ob den Atombetreibern ein absolutes Ende der Kernkraft vorgegeben
werden soll.
Die übrigen Details des Ausstiegs hat Kanzleramtsminister Frank-Walter
Steinmeier unterdessen mit den Stromkonzernen weitgehend ausgehandelt. An
allen Kernkraftwerken sollen binnen fünf Jahren Zwischenlager entstehen.
Anschließend soll Schluss sein mit der Wiederaufarbeitung verbrauchter
Brennelemente im Ausland. Atomtransporte sollen dann nur noch stattfinden, um
unverwertbare Rückstände aus der Wiederaufarbeitung zurück nach Deutschland
zu holen. Verzehnfacht wird künftig die Pflichtversicherung der Meiler gegen
Atomunfälle, die heute 500 Millionen Mark je Meiler beträgt. Künftig sollen alle
19 Kraftwerke in einem Pool versichert werden.
Das Endlager Gorleben soll eingemottet und die Standortsuche neu begonnen
werden. Das Planfeststellungsverfahren für das Endlagerprojekt Schacht Konrad
soll abgeschlossen, aber bis auf weiteres kein Müll eingelagert werden.
Die Forderung von CDU und CSU nach einer Beteiligung an den
Atomausstiegsgesprächen wurde von Umweltminister Jürgen Trittin
zurückgewiesen. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Michael
Müller warf der Union vor, es gehe ihr nicht um die Sache, sondern "um eine
durchsichtige Parteitaktik". CDU und CSU seien grundsätzlich gegen den
Ausstieg aus der Kernenergie, sagte Müller der "Berliner Zeitung". "Warum
sollen sie dann an Ausstiegsgesprächen teilnehmen?"
Sächsische Zeitung (16.04.00 14:55 Uhr)
Einigung über Atomausstieg in Sicht
Berlin (dpa) - Bei den seit rund 15 Monaten laufenden Verhandlungen zwischen Bundesregierung und
Energiekonzernen über den Ausstieg aus der Atomkraft ist möglicherweise eine Einigung in Sicht: Die
Wirtschaft habe grundsätzlich die Forderung der rot-grünen Koalition nach einer Laufzeit für die 19 am Netz
befindlichen Atommeiler von 30 Jahren akzeptiert, berichtete das ZDF am Sonntag in seiner Sendung «berlin
direkt». Das Umweltministerium wollte dazu auf Anfrage der dpa keine Stellung nehmen und verwies auf die
vereinbarte Vertraulichkeit. CDU und CSU bekräftigten unterdessen, sie wollten einen Ausstieg mit «allen
politischen und rechtlichen Möglichkeiten» verhindern. Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) und
andere Sprecher der Koalition wiesen die Forderung entschieden zurück, die Union und die von ihr geführten
Bundesländer an den Ausstiegs-Verhandlungen zu beteiligen. Nach dem ZDF-Bericht und vorherigen
inoffiziellen Informationen aus Regierungskreisen ist allerdings noch die Einbeziehung des Atomkraftwerks
Mülheim-Kärlich in die Vereinbarung von Reststrommengen strittig. Nach einer solchen Verabredung könnten
neuere Atommeiler länger Strom liefern als alte. Der zum RWE-Konzern gehörende Atommeiler in
Rheinland-Pfalz musste 1988 nach nur zweijährigem Betrieb aus juristischen Gründen vom Netz genommen
werden. Sollte für ihn ebenfalls eine Laufzeit von weiteren 28 Jahren angesetzt werden, würde die
Gesamtlaufzeit aller Atomkraftwerke laut ZDF rein rechnerisch auf 31,5 Jahre steigen. Bislang hatten die
Atomkraftbetreiber eine Laufzeit von mindestens 35 Jahren gefordert. SPD und Grüne wollen 30 Jahre
Laufzeit durchsetzen. In der ZDF-Sendung lehnte die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im
Bundestag, Kerstin Müller, einen über 30 Jahre hinaus gehenden Kompromiss ab. Sie erinnerte an die
Vereinbarung innerhalb der Koalition und fügte hinzu: «Ich gehe davon aus, dass das Kanzlerwort hier gilt.
... Es kann (aber) keine Extrawürste für einzelne Betreiber geben.» Wie das ZDF weiter berichtet, ist auch
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) grundsätzlich bereit, einer Einbeziehung von Mülheim- Kärlich
zuzustimmen. SPD-Fraktionschef Peter Struck sagte dazu im ZDF, nach seiner persönlichen Meinung solle
ein Kompromiss mit der Wirtschaft «nicht an einem umgerechnet halben oder viertel Jahr mehr an
Restlaufzeiten von Kernkraftwerken scheitern». Er könne sich auch ernsthaft nicht vorstellen, dass die Grünen
einen solchen Konsens dann ablehnten. Die Vorsitzenden von CDU und CSU, Angela Merkel und Edmund
Stoiber, bekräftigten in der «Welt am Sonntag» die Ablehnung des Atomausstiegs. Stoiber sagte: «Wir sind
uns einig, dafür alle Hebel in Bewegung zu setzen.» Merkel betonte, es werde «keinen Energiekonsens geben,
wenn man versucht, die Länder und die Opposition auszuschalten». Trittin entgegnete in einem dpa-Gespräch,
da CDU und CSU ihre grundsätzliche Haltung nicht änderten, «besteht jetzt kein Grund, sie in die Gespräche
mit einzubeziehen». Sollte die Union allerdings auf die Linie der rot-grünen Koalition einschwenken, sei eine
Mitarbeit vorstellbar. Sein Eindruck sei jedoch, dass die Union ihren «Obstruktionskurs» fortsetzen wolle.
Ebenso hatten sich zuvor SPD- Fraktionschef Peter Struck und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering
geäußert. Auch der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Müller, warf der
Opposition vor, in den vergangenen Monaten versucht zu haben, die Verhandlungen zu erschweren und zu
blockieren. Die umweltpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Michaele Hustedt, meinte in der
«Berliner Morgenpost», mit den Stromkonzernen werde es eher eine Einigung geben als mit der CDU. Der
Atomexperte des Bundes Umwelt und Naturschutz, Walter Jungbauer, nannte die Forderung der Union nach
Mitsprache «scheinheilig» Schröder hat der Industrie für einen erfolgreichen Abschluss der Energiegespräche
eine Frist bis zu den Parlamentsferien gesetzt. Diese Haltung bekräftigte am Samstag die
Grünen-Vorstandssprecherin Antje Radcke. Es sei lange genug verhandelt worden, sagte sie in der
ZDF-Sendung «Länderspiegel». Zur Zeit sehe es so aus, «als würden die Unternehmen miteinander Katz und
Maus spielen». Gegenwärtig werden die Gespräche von Regierung und Wirtschaft in einer Arbeitsgruppe
geführt. Ein neues Spitzengespräch unter Federführung von Schröder soll es erst nach Abschluss dieser
Treffen geben.
Poker um Austieg wird immer härter:
Stoiber will Atomkonsens blockieren
Berlin - Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hält
Medienberichten zufolge den Atomkonsens für nicht machbar.
Die "Berliner Zeitung" berichtet, Stoiber habe in einem Schreiben an die Stromkonzerne darauf verwiesen, dass die Unternehmen VIAG und VEBA in ihrem Fusionsvertrag einen Einschluss der Atomenergie vereinbart hätten. Ein Verzicht auf Kernkraftwerke würde Konzernvermögen vernichten und wäre "ein gravierender Eingriff in die Rechte der Aktionäre", schrieb Stoiber demnach.
Die VIAG gehört zum Teil dem bayerischen Staat.
Stromer-Vertrag als Knute gegen den Ausstieg
Stoiber geht davon aus, dass angesichts der Sachlage für die
Energieversorgungsunternehmen "eine Befristung der Laufzeiten von
Kernkraftwerken unterhalb 35 Volllastjahren nicht akzeptabel ist". Dies würde
rund 40 Kalenderjahren entsprechen; die Grünen wollen jedoch höchstens
30 Jahre akzeptieren.
RZ-Online 16.04.00
... Stoiber will Atomkonsens blockieren
Dem Blatt zufolge droht Stoiber damit, dass der bayerische Vertreter im Aufsichtsrat des durch die Fusion entstehenden Energiekonzerns E.ON einem zwischen der Bundesregierung und Konzernvorständen vereinbarten Ausstiegskonsens nicht zustimmen werde. Zudem fehle den - bisher erfolglosen - Konsensverhandlungen die "demokratische Legitimation", weil Bundestag und Bundesrat nicht eingeschaltet worden seien.
CDU:Weiterhin für Kernkraft
CDU und CSU bekräftigten ihre grundsätzliche Ablehnung eines Atomausstiegs, "auch in Form von Laufzeitbegrenzungen für bestehende Kraftwerke sowie ein Neubauverbot für Kernkraftwerke". Das Anliegen sei rein ideologisch begründet und widerspreche unter anderem den deutschen Klimaschutzzielen.
Zweieinhalb Monate nach Beginn der Atomkonsensgespräche haben CDU
und CSU die Bundesregierung aufgefordert, Opposition und Länder an den
Verhandlungstisch zu holen. Ein Sprecher des Umweltministeriums lehnte
die Forderung ab. Die Union habe mehr als 16 Jahre Zeit gehabt, den
gesellschaftlichen Konflikt um die Nutzung der Atomenergie durch einen
Ausstiegskonsens zu beenden. Offenbar gehe es vielmehr darum, mit
Widerstand gegen standortnahe Zwischenlager den Atomausstieg zu
blockieren. Der Essener Stromkonzern RWE begrüßte dagegen die
Forderung der Unionsparteien nach einer Beteiligung an den laufenden
Verhandlungen.