Samstag, der 22. Januar 2000
Mediziner fordern sofortigen Atomausstieg
Kiel (dpa) - Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges haben den
sofortigen Atomausstieg in Deutschland gefordert.
Als Grund für die Ausstiegsforderung nannten sie auf einem Kongress in Kiel die
gesundheitliche Bedrohung des Menschen. Die derzeitige Diskussion sei nicht angemessen,
da sie auf rein wirtschaftliche Fragen beschränkt bliebe. Die Organisation lehnt jedes
Verhandlungsergebnis zwischen Regierung und Atomindustrie ab. Dadurch werde nur der
Weiterbetrieb von Atomkraftwerken erlaubt.
Scharfer Gegenwind für Bundesumweltminister Trittin auf IPPNW-Ärzte-Kongreß
Experten mahnen: Gesundheitliche Gefährdung in Atomdebatte vernachlässigt - schnellerer Ausstieg möglich
Kiel/Berlin. Mit hitzigen Diskussion vor 300 Zuhörern mit Bundesumweltminister Jürgen Trittin und dem schleswig-holsteinischen Landesminister Claus Möller endete eine Tagung der IPPNW zum Thema "Das Recht auf Leben und auf Atomausstieg- schützt uns, nicht die Atomkraft" am Sonnabendabend in
Kiel. Dabei forderte die Ärzteorganisationen einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie statt gegenüber der Atomindustrie eine Politik der quasi Bestandsgarantie der Atomenergienutzung zu verfolgen.
Auf dem öffentlichen internationalen Kongreß, der von der IPPNW organisiert wurde, diskutierten Umwelt- und Rechts-Experten mit Medizinern über die Ausstiegsperspektiven und die aktuellen Gefahren Atomenergie-Nutzung. Dabei stellte der Hamburger Jurist Dr. Ulrich Wollenteit fest, daß der
"derzeitige gesetzliche Rahmen für einen möglichen Atomausstieg nicht ausreichend ausgeschöpft wird."
"Die Diskussionen um die Nutzung der Atomenergie wird auf rein wirtschaftliche Fragen beschränkt. Dabei ist der Grund für den von den Menschen in Deutschland breit getragenen Willen zum Ausstieg aus der Atomenergie nicht eine Frage des Geldes sondern der Gesundheit," so IPPNW-Sprecher Lars
Pohlmeier. "Mit jedem Tag des Weiterbetriebes von Atomanlagen in Deutschland wird die Bevölkerung einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt, daß nicht verantwortbar ist." Pohlmeier erinnerte an das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Leben und Gesundheit (Artikel 2, Absatz 2, Satz 1): "Jeder hat das
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit".
Die IPPNW kündigte an, gemeinsam mit befreundeten Organisationen den nötigen gesellschaftlichen Druck für einen kurzfristigen Ausstieg zu erzeugen. Derzeit vertreibt ein bundesweites Bündnis von Anti-Atom-Organisationen eine "Zeitung für den Atomausstieg", die innerhalb weniger Wochen weit über
eine Millionen Menschen in Deutschland erreicht hat.
Kiel, den 22.Januar 2000
Für Nachfragen: Lars Pohlmeier, Sprecher der IPPNW: 0171-4160139
junge Welt Inland 21.01.2000
Stromkonzerne reiben sich die Hände
Rot-Grün zementiert Atomkraftnutzung auf Jahrzehnte
»Atomindustrie hat gut lachen«. So überschrieb Greenpeace am Donnerstag eine Presseerklärung zur Ankündigung der
Bundesregierung, den Stromkonzernen eine Laufzeit von 30 Jahren für die Atomkraftwerke zuzubilligen. Mit diesem
Angebot, so die Umweltschutzorganisation, werde die weitere Nutzung der Atomenergie »auf Jahrzehnte zementiert«. Das
gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, daß es sich eben nur um ein Angebot von Rot-Grün handelt. Vertreter der
Atomwirtschaft haben durchblicken lassen, daß sie diese Offerte bei den nächsten Konsensverhandlungen mit Kanzler
Schröder ablehnen werden. Unter 35 bis 40 Volllastjahren - das entspräche bis zu 50 Kalenderjahren - sei mit ihnen
keine Einigung zu haben.
Da nützt es wohl auch nichts, wenn der Kanzler den Atombossen bei der nächsten Gesprächsrunde am 4. Februar
weitere Zuckerstücke hinhalten will. Für die Atomkraftwerke Stade und Obrigheim, die bereits jetzt 30 Betriebsjahre auf
dem Buckel haben, soll den Betreibern aus Gründen des »Vertrauensschutzes« eine Frist von weiteren drei Jahren
eingeräumt werden. Obendrein darf die Atomwirtschaft die 30 Jahre Laufzeit flexibel handhaben: Wird ein Meiler früher
vom Netz genommen, kann ein anderes Kraftwerk desselben Unternehmens entsprechend länger Strom produzieren.
Dabei hat die Praxis gezeigt, daß die wirtschaftliche Lebensdauer von Atomkraftwerken im Regelfall weit unter 30
Betriebsjahren liegt. Der Reaktor Würgassen an der Weser beispielsweise ging 1995 bereits nach 23 Jahren vom Netz,
weil das Betreiberunternehmen PreussenElektra teure Nachrüstungen scheute. Schon eine Befristung der Laufzeiten auf
30 Jahre hätte also, wenn sie denn vereinbart würde, mit einem Ausstieg aus der Atomkraftnutzung nichts mehr zu tun.
Sie wäre, so Henrik Paulitz von den »Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs« (IPPNW), vielmehr »ein Freibrief des
Staates für eine maximale wirtschaftliche Verwertung der Atomkraftwerke«.
Jenseits der am Mittwoch nachmittag medienwirksam inszenierten 30-Jahres-Offerte hatte Wirtschaftsminister Müller der
Atomwirtschaft schon zuvor weitere weitreichende Zugeständnisse gemacht. So wird die Bundesregierung allen
öffentlichen Beteuerungen zum Trotz die Sicherheitsauflagen für die AKW nicht verschärfen. Denn solche Auflagen
könnten teure Nachrüstungen zur Folge haben und die Wirtschaftlichkeit der Meiler - siehe Würgassen - frühzeitig in Frage
stellen.
Auch aus ihrer Entsorgungsklemme will die rot-grüne Bundesregierung den Atomstromern helfen. Der Vorschlag, die
verbrauchten und hochradioaktiven Brennelemente aus den Reaktoren in standortnahen Zwischenlagern zu bunkern, bis
eines fernen Tages ein Endlager zur Verfügung steht, kam von der Bundesregierung. Die Konzerne griffen dankend zu.
Neun neue Anträge für Zwischenlager gingen alleine im Dezember im Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter ein. Für
das Zwischenlager beim AKW Lingen läuft bereits das Genehmigungsverfahren. Es soll 130 Castor-Behältern Platz
bieten. Das entspricht rund 30 weiteren Reaktorbetriebsjahren, der Meiler Lingen war 1988 ans Netz gegangen. Für die
neu beantragten Lager haben die Energieversorger zwischen 80 (AKW Esenshamm) und 169 (AKW Neckarwestheim)
Stellplätze vorgesehen. Mit den Zwischenlagern ist der Weiterbetrieb der Reaktoren bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
gewährleistet.
Reimar Paul
22.01.00
Atomausstieg bedroht angeblich 150.000 Stellen
- Trittin: Industrie soll sich gütlich auf Atomausstieg einigen
Vor der entscheidenden Phase der Gespräche über einen Atomausstieg haben die Betriebsräte der Atomkonzerne
vor dem Verlust von Arbeitsplätzen gewarnt. Bei einem Ausstieg würden bis zu 150.000 Menschen arbeitslos,
schrieben die Betriebsratsvorsitzenden der Konzerne RWE, Bayernwerk, PreussenElektra und HEW in einem
gemeinsamen Appell, wie die "Berliner Zeitung" berichtete. Betroffen wären nicht nur die Beschäftigten in den
Kraftwerken, sondern auch zahlreiche mittelständische Gewerbebetriebe nahe der Akw-Standorte sowie
Arbeitsplätze in der Zulieferindustrie. Zugleich appelllierten die Betriebsräte an die Konzernchefs, sich nicht auf
die von Rot-Grün geforderte Laufzeit von 30 Jahren einzulassen.
Nach Ansicht der Betriebsratsvorsitzenden ist eine "Mindestlaufzeit von 35 bis 40 Volllastjahren realistisch".
Nur dann bleibe Zeit, "entsprechende Ersatzkapazitäten in Deutschland aufzubauen". Es mache keinen Sinn,
"weltweit die sichersten Kernkraftwerke abzustellen, um vermeintlich billigeren Strom in Frankreich oder
Osteuropa einzukaufen". Die rot-grüne Regierung habe im Grunde anerkannt, dass die deutschen Anlagen sicher
seien, sonst hätten sie sie längst abgeschaltet.
Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) forderte unterdessen die Stromkonzerne zum Einlenken auf. Die Kraftwerksbetreiber sollten beim
Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang Februar endlich "Farbe zu bekennen", sagte Trittin. Die Regierung gehe mit ihrem
Beschluss, die Laufzeit von Reaktoren auf 30 Jahre zu begrenzen, "keinerlei rechtliches Risiko" ein. "30 Jahre geht auch ohne Konsens", warnte
Trittin. Einen großen Verhandlungsspielraum für die Industrie sieht der Grünen-Politiker nicht: "Warum sollten wir im Konsens etwas drangeben,
was wir so oder so bekommen können?"
Die Gespräche sollen voraussichtlich am 4. Februar fortgesetzt werden. Die Grünen peilen Laufzeiten für die 19 deutschen Atomkraftwerke von
30 Jahren an, die SPD signalisierte Zustimmung zu dieser Frist. Die Kraftwerksbetreiber hatten vergangene Woche ihren Widerstand gegen einen solchen Zeitrahmen bekräftigt.
(AFP)
Atomkraftgegner planen Widerstand gegen Transporte
Biblis. Atomkraftgegner haben am Montag gegen eine mögliche
Wiederaufnahme von Atomtransporten aus dem einzigen hessischen
Atomkraftwerk Biblis massiven Widerstand angekündigt. "Wir können in
kürzester Zeit mindestens 10 000 Menschen zu gewaltfreien Sitzblockaden
mobilisieren, egal von wo nach wo der erste Transport in Deutschland
rollen sollte", sagte ein Sprecher der Anti-Atomkraft-Organisation
"X-tausendmal quer - überall".
Bislang haben über 3000 Aktivisten den Mobilisierungsaufruf der
Organisation unterzeichnet. "Nach unseren Erfahrungen in Gorleben und
Ahaus kommen dann drei bis vier Mal so viele Unterstützer", sagte der
Sprecher. Die X-tausendmal-quer-Kampagne stelle zudem nur einen Teil der
Anti-Atom-Bewegung. Andere Gruppen seien bereit, über gewaltfreie
Sitzblockaden hinaus Widerstand zu leisten.
Der Kampagne-Sprecher ging davon aus, dass der im Sommer 1998
erlassene Transport-Stopp im Rahmen der Konsens-Gespräche wieder
aufgehoben werden könnte. "Dann würde im März oder April der erste Zug
mit radioaktivem Atommüll auf die Schiene gehen." Wie in anderen
Atomkraftwerken seien auch in Biblis die Lagerkapazitäten für
abgebrannte Brennstäbe von Mai an fast vollständig erschöpft. (lhe)
© Frankfurter Neue Presse, 2000
SWR-Nachrichten, 25.01.00
Gemmrigheim: Gemeinde stoppt Zwischenlager des GKN
Der Gemeinderat von Gemmrigheim am Neckar hat das geplante atomare
Zwischenlager des Atomkraftwerkes Neckarwestheim gestoppt. Um das
Projekt zu verhindern, hat das Gremium gestern abend einen
Bebauungsplan aufgestellt, der ein solches Lager verbietet. Dies ist
möglich, weil sich der Platz für das Zwischenlager auf Gemmrigheimer
Gemarkung befindet. Die Betreiber des Atomkraftwerkes halten den
Beschluss für illegal und haben sofortige Klage angekündigt. Sie
drohten mit Schadensersatzforderungen gegen die Gemeinde Gemmrigheim
in Höhe von 1 bis 2 Mio Mark pro Tag,wenn die Planungen weiter
behindert werden.
Gemmrigheim und GKN geraten aneinander
Gemeinde will geplantes Zwischenlager für 169 Atommüllbehälter
durch Veränderungssperre verhindern
Gemmrigheim, Kreis Ludwigsburg - Vorbei die Zeiten der Harmonie: Mit
planungsrechtlichen Schritten will Gemmrigheim das Zwischenlager auf dem
GKN-Gelände verhindern. Rechtswidrig nennt das GKN das Vorgehen.
VON EVA DÄHNE
So lange war alles gut gelaufen zwischen den Rathäusern in den
¸¸Atomdörfern'' im Unterland und dem Gemeinschaftskernkraftwerk
Neckarwestheim (GKN). Da gab es für die Standortgemeinden laut GKN über
300 Millionen Mark durch ¸¸steuerliche und andere Zuwendungen'' in den
letzten Jahrzehnten, 1700 gesicherte Arbeitsplätze und es wurden ¸¸Aufträge in
zig Millionenhöhe in den umliegenden Gemeinden und Landkreisen platziert''.
Auch die 1998 bekannt gewordenen ¸¸erhöhten Kontaminationen'' bei
Transporten von radioaktivem Material erschütterten die guten Beziehungen
nicht tiefgreifend. Nun aber knirscht es gewaltig und die Schuld dafür trägt nach
Meinung von Gemmrigheims Bürgermeisterin Monika Tummescheit primär die
Bundesregierung. Die bläst bekanntermaßen zum Rückzug aus der Atomenergie
und will dezentrale Zwischenlager bei den Atomkraftwerken. So soll auf dem
GKN-Areal ein oberirdischer ¸¸Parkplatz'' für 24 Castorbehälter und ein
Zwischenlager in einem Tunnel für 169 Castor-Behälter entstehen.
Diese Pläne versetzten Neckarwestheim und Gemmrigheim in größte Unruhe.
Die Kommunen wünschen sich zwar, dass der Arbeitgeber und
Gewerbesteuerzahler GKN das Atomkraftwerk weiterbetreibt, aber der
radioaktive Müll soll auf jeden Fall abtransportiert und nicht vor Ort gelagert
werden. Da sowohl das unterirdische als auch das oberirdische Castorlager auf
Gemmrigheimer Gemarkung geplant sind - die Markungsgrenzen
Neckarwestheim und Gemmrigheim laufen direkt durch das GKN-Gelände -,
sah die 3500-Einwohner-Kommune am Nordrand des Kreises Ludwigsburg
eine Möglichkeit zum Eingreifen.
Bei ihrer Sitzung am Montag sollen die Gemeinderäte über eine
Veränderungssperre für das so genannte Bebauungsplanverfahren Bild
abstimmen. Monika Tummescheit sagt ganz klar, dass damit das Zwischenlager
ausgeschlossen werden soll. Das GKN müsste dann bei Bauvorhaben die
Zustimmung der Gemeinde einholen.
Beim GKN haben die Gemmrigheimer Absichten ¸¸Bestürzung'' ausgelöst. Vier
Tage vor der entscheidenden Gemeinderatssitzung verschickten sie an die
Bürgermeisterin und ihre Räte einen dreiseitigen Brief , in dem nicht nur die
¸¸Verzögerungs- und Behinderungstaktik'' der Bürgermeisterin als
¸¸rechtswidrig'' bezeichnet wird, sondern auch die Veränderungssperre. Die
könnte zu Schäden ¸¸in einer Größenordnung von eins bis zwei Millionen Mark
je Tag'' für das GKN und deren Gesellschafter führen.