Berliner Zeitung, 8. 1. 2000

 

Frankreich: ATOMINDUSTRIE

Ausstieg auf leisen Sohlen

 

Frankreich gibt der Kernenergie keine

Zukunft. Schon lässt Premier Jospin prüfen,

ob sich Nuklear-Wiederaufarbeitung noch

lohnt

 

Harald Schultz

 

PARIS, 7. Januar. Daniel Cohn-Bendit verspürte die Wut der

französischen Atomindustrie über die deutschen

Ausstiegs-Versuche hautnah: "Dreckiger Boche, geh' zurück nach

Deutschland, du willst uns unser Brot wegnehmen!" So

empfingen Arbeiter den Grünen bei seinem Besuch in der

Atommüll-Anlage La Hague in der Normandie. Dann flogen Eier

und Tomaten.

 

Auch auf Regierungsebene kam ein schroffes "Nein!", als die

Deutschen ihre Atommüll-Lieferungen nach Frankreich stoppen

wollten. "Wenn internationale Verträge umgestoßen werden",

entrüstete sich Premier Lionel Jospin, "bewegen wir uns nicht

mehr auf festem Boden. Es muss Schadensersatz geleistet

werden."

 

Also klare Fronten im grenzüberschreitenden Atomstreit:

Während die Deutschen zum Ausstieg entschlossen sind,

hätscheln die Franzosen ihre Nuklearindustrie?

 

Nicht ganz. In Frankreich bröckelt die Fassade. "Der Ausstieg der

Deutschen löst auch bei uns ein Nachdenken aus", sagt Graud

Guibert, für die Energiepolitik verantwortliches

Vorstandsmitglied der Sozialisten. Wer genau hinschaut, sieht,

wie auch Frankreich aussteigt, wenn auch auf leisen Sohlen.

Sicher, das Land ist noch immer ein Atomstaat: 57 Reaktoren

produzieren fast 80 Prozent des Stroms; in Deutschland sind es

nur 31 Prozent.

 

Keine neuen Reaktoren gebaut

 

Und noch heute sind zivile und militärische Nutzung der

Atomkraft bei der Forschung im Commissariat l'Energie

Atomique eng miteinander verzahnt. Frankreich verfügt über

Atomraketen auf U-Booten und Flugzeugen. Beherrscht wird die

Kaste der "Nukleokraten" auf militärischer und ziviler Seite von

Ingenieuren, die gemeinsam ausgebildet wurden an der

Top-Universität Ecole Polytechnique, die dem

Verteidigungsministerium unterstellt ist. Die Ingenieure sind

angestellt in einem Spezialdienst des Staates, dem Corps des

Mines.

 

Doch neue Projekte werden nicht mehr begonnen. Es geht nur

noch darum, alte abzuwickeln. Parallel zur Abrüstung von

Atomraketen stoppte der staatliche Stromversorger Electricité de

France (EDF) sein ambitiöses Programm. Fünf Reaktoren

wurden seit 1990 stillgelegt &endash; nach Laufzeiten von 22 bis 24

Jahren. Schon lange hat die EDF keinen neuen Meiler mehr

gebaut.

 

Kein Wunder. "Gas ist mittlerweile viel wettbewerbsfähiger

geworden", hat Sozialist Guibert erkannt. Beim Neubau eines

Kraftwerkes kostet ein Kilowatt Leistung 800 Mark, bei

Atomkraftwerken jedoch 3 000 Mark. Auch bei den laufenden

Kosten ist Gas längst rentabel. Und Frankreich weiß gar nicht,

wohin mit all dem Strom: "Wir haben Überkapazitäten", räumt

Guibert ein.

 

Sphäre des Religiösen

 

Auch die Innenpolitik macht der Atomlobby das Leben schwer.

Seit 1997 haben die französischen Grünen erstmals sechs

Abgeordnete und stellen sogar mit Dominique Voynet die

Umweltministerin. Prompt legte die neue Regierung unter Lionel

Jospin den Schnellen Brüter in Creys-Malville endgültig still.

Und die rot-grüne Koalition verfünffachte die Ausgaben für

erneuerbare Energien. "Wir müssen die Nukleardebatte aus der

Sphäre des Religiösen herausnehmen", sagt Guibert. Erstmals

wurde eine unabhängige Kontrollkommission für die

Atombranche beschlossen, die sich bislang durch

Geheimniskrämerei verschanzt hat. Kein gutes Zeichen für die

Nukleokraten &endash; man weiß ja, wie Glasnost in Moskau geendet

hat.

 

Jospins Beschluss, den Schnellen Brüter stillzulegen, stellt

längerfristig auch die französische Wiederaufarbeitungsanlage

(WAA) in La Hague in Frage &endash; nicht bloß ein deutscher

Lieferstopp. Denn warum soll man für viel Geld die Brennstäbe

zersägen und in Säure tunken, damit sie sich auflösen, wenn das

gewonnene Plutonium nicht mehr für Atombomben gebraucht

wird und auch nicht mehr im Schnellen Brüter verfeuert werden

kann?

 

Bedrohlich für die Wiederaufarbeitung La Hague, wo

Deutschlands Stromkonzerne zu den Top-Kunden gehören,

könnte auch werden, dass Jospin nun das staatliche Commissariat

General au Plan, eine Wirtschafts-Planungsbehörde, erstmals

beauftragt hat, die Gesamtkosten der Wiederaufarbeitung

auszurechnen. Damit nicht genug: Jospin will auch erforschen, ob

Frankreich den Atommüll nicht direkt endlagern kann, ohne ihn

vorher wiederaufzuarbeiten.

 

Was würde dann aus der Nuklearfabrik in La Hague? Die

Deutschen haben längst einen Vorschlag gemacht: Sie schicken

weiter den Müll, aber die Franzosen zerhacken ihn nicht mehr,

sondern verglasen ihn. Damit ist er gegen Zerfall geschützt und

kann in Bergwerke gekippt werden. Das würde in La Hague auch

langfristig Arbeitsplätze sichern. Schon dürfte die aufgeregte

Gewerkschaft CGT entspannen. Und Daniel Cohn-Bendit könnte

endlich wieder in die Normandie fahren, ohne als dreckiger

Boche beschimpft zu werden.

 

Artikel vom 8. Januar 2000

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