PHILIPPSBURG/OBRIGHEIM. Auch der Block I des Atomkraftwerks Philippsburg muss vom
Netz genommen werden. Wie die Energie Baden-Württemberg (EnBW) mitteilte, hat es in
dem Kraftwerk erneut eine Panne gegeben.
Bei Routinearbeiten sei den Mitarbeitern aufgefallen, dass ein Rückschlagventil im
Reaktorwasserreinigungssystem undicht sei, hieß es gestern. Dieses Ventil trenne zwei
Wasserkreise und sei sicherheitstechnisch so bedeutsam, dass der Vorfall meldepflichtig ist,
erklärte die EnBW. Die Atomaufsicht sei gestern unterrichtet worden. Die Betreiberin stufte
die Panne vorläufig in die Kategorie N (Normal) ein.
Da sich der Schaden nur beheben lasse, wenn der Reaktor nicht in Betrieb ist, müsse zur
Reparatur der Block I des Kraftwerks am Wochenende herunter gefahren werden.
Philippsburg steht dann still: Denn Block II ist nach Bekanntwerden einer Pannen-Serie
bereits seit dem 8. Oktober vom Netz.
Berlin entschieden dagegen
Derweil streiten sich das Bundesumweltministerium und die Betreiberin EnBW um die
Abschaltung des Atomkraftwerks Obrigheim (Rhein-Neckar-Kreis). Das Ministerium sprach
sich gestern entschieden gegen eine spätere Abschaltung des ältesten deutschen
Atommeilers aus. Entsprechende Pläne der EnBW waren am Dienstag bekannt geworden.
Die EnBW müsse sich zunächst um das Sicherheitsmanagement in den
baden-württembergischen Kraftwerken kümmern, sagte ein Sprecher des
Umweltministeriums in Berlin. Eine Laufzeit-Verlängerung stehe deshalb derzeit nicht zur
Debatte.
EnBW-Vorstandschef Gerhard Goll hatte für Obrigheim die Jahre 2007 bis 2008 als
Zeitpunkt für eine Abschaltung genannt. Im Gegenzug sollen Abstriche bei den
Betriebszeiten von Neckarwestheim II und Philippsburg II gemacht werden. Goll berief sich
dabei in der "Heilbronner Stimme" auf eine Zusage von Bundeskanzler Gerhard Schröder
(SPD). Schröder soll dem Bericht zufolge zugesagt haben, dass Strommengen auf
Obrigheim übertragen werden dürfen, wodurch sich eine längere Laufzeit ergibt. Die EnBW
hatte eingeräumt, dass eine Zustimmung des Bundes für eine Ausnahmegenehmigung noch
ausstehe.
Im so genannten Atomkonsens-Vertrag vom Juni 2000 hatten die Bundesregierung und die
führenden Energieversorgungsunternehmen für jedes einzelne Kraftwerk in Deutschland
eine Strommenge festgelegt, die noch produziert werden darf, bevor das Kraftwerk
abgeschaltet wird. Obrigheim soll danach spätestens am 31. Dezember 2002 vom Netz
genommen werden. Die Strommenge kann laut Vertrag auch auf andere Kernkraftwerke
übertragen werden.
"Obrigheim betriebtüchtig"
"Grundsätzlich soll dies von alten auf neue Anlagen erfolgen", heißt es in einer Mitteilung
des Bundesumweltministeriums. Goll dagegen betonte: "Obrigheim ist betriebstüchtig und
verfügt über Zwischenlagerkapazitäten, um die wir in den anderen Standorten noch
kämpfen müssen." Damit würden auch Atomtransporte vermieden.
Das Bundesumweltministerium war über den Vorstoß von Goll erstaunt: "Herrn Goll
müssten eigentlich andere Sorgen umtreiben", sagte Ministeriumssprecher Martin
Walthausen der dpa. Die EnBW müsse sich nach den Verstößen und Sicherheitspannen
zuerst um das Sicherheitsmanagement in seinen Kraftwerken kümmern. Über eine
Laufzeitverlängerung würde sicher nicht entschieden, bevor die Novelle des Atomgesetzes
nicht durch das Parlament gebracht worden sei. Dies sei womöglich im Frühjahr 2002 der
Fall. Überdies gebe es ein schwebendes Verfahren, in dem es um die Zulässigkeit des
weiteren Betriebs in Obrigheim gehe. In dem seit 1994 anhängigen Verfahren geht es nach
Angaben des Umweltministeriums um die Frage, ob die Errichtung des Atomkraftwerks
vollständig genehmigt ist.
Die Landtagsfraktionen von SPD und Grünen wandten sich strikt gegen eine verlängerte
Laufzeit des Kraftwerks. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Gefährdungslage durch
mögliche Terroranschläge und Sabotageakte sei der Vorschlag von Goll "völlig
inakzeptabel und unverantwortlich", sagte SPD-Fraktionschef Wolfgang Drexler. Der
Grünen-Fraktionsvorsitzende Dieter Salomon nannte Obrigheim "angesichts der aktuellen
Bedrohungssituation eine tickende Zeitbombe". lsw
Von Peter Reinhardt
Debatte im Landtag - Minister Müller und Atomaufsicht bleiben unter
Druck - EnBW bestellt Experten
Das Kernkraftwerk Philippsburg kommt nicht zur Ruhe. Gestern wurden drei weitere Pannen gemeldet.
Umweltminister Ulrich Müller und die Atomaufsicht seines Hauses bleiben politisch unter Druck. Einmal mehr forderten SPD und Grüne seinen Rücktritt.
Die Energie Baden-Württemberg (EnBW) hat dem Ministerium in Stuttgart einen Störfall in Block I von Philippsburg gemeldet, den sie selbst als sicherheitstechnisch nicht relevantes Ereignis der Kategorie 0 bewertet.
Diese Einstufung der radioaktiv verseuchten Pfütze im Sperrbereich wird von der Aufsicht noch überprüft. Zwei weitere Pannen im derzeit abgeschalteten Block II veröffentlichte Müller zuvor im Landtag. Die Probleme an den Pumpen seien in ihrer Tragweite noch nicht bewertet.
Zehn Tage später als geplant hat EnBW-Vorstandschef Gerhard Goll drei Fachleute präsentiert, die alle sicherheitsrelevanten Vorgänge in den fünf Kernkraftwerken des Konzerns untersuchen und Vorschläge für Verbesserungen machen sollen.
In den nächsten Tagen wird der Schweizer Hans Wilhelm, der sechs Jahre Betriebsleiter im Kernkraftwerk Leibstadt war und heute Mitglied der Eidgenössischen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen ist, als "nuklearer Sonderbeauftragter" anfangen. Im Februar 2002 stößt der Schweizer Wolfgang Jeschki als Berater dazu.
Als Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen ist er der Nachfolger des umstrittenen Serge Pretre und oberster Atomkontrolleur in der Schweiz. Ergänzt wird das Team durch den Schweden Jan Nistad.
Zusätzlich will Goll die Internationale Atomenergiebehörde in Wien mit einer Überprüfung in Philippsburg beauftragen.
Heftige Attacken ritten Grüne und SPD bei der zweiten Debatte des Landtags über die Pannenserie in den fünf Kernkraftwerken gegen Müller. Grünen-Fraktionschef Dieter Salomon warf dem CDU-Politiker vor, er verstecke sich hinter seinen Beamten und habe das Haus nicht im Griff.
"Ziehen Sie einen Schlussstrich und machen Sie den Weg frei für einen Neuanfang an der Spitze der Atomaufsichtsbehörde", forderte Salomon den Rücktritt des Ministers. SPD-Fraktionschef Wolfgang Drexler warf Müller nach dessen Rede vor, immer über Fehler der EnBW und des TÜV zu reden, aber notwendige Veränderungen im eigenen Haus zu scheuen. "Sie haben das Heft nicht mehr in der Hand", kritisierte Drexler.
Müller hatte über eine halbe Stunde lang seine so bekannte wie umstrittene Sicht der Dinge wiederholt. Dass sich die Mitarbeiter in Philippsburg 17 Jahre lang über Regeln des Handbuchs hinweg gesetzt hätten, nannte er "gravierend". Die daraus für die EnBW zu ziehenden Konsequenzen ließ er offen.
Dies stünde in den nächsten Wochen im Vordergrund der Überprüfung. Für verbesserungsfähig hält Müller die bisher üblichen Störfallmeldungen, ohne Details zu nennen. Beim TÜV sollten die Jobs unter den Gutachter öfter rotieren.
Müller stellte am Ende seine in den letzten Wochen viel kritisierte Atomaufsicht sogar als bundesweiter Vorreiter dar. Bei der Sicherheitsüberprüfung der Atomkraftwerke sei Baden-Württemberg führend.
Nun müsse Bundesumweltminister Jürgen Trittin den gleichen Maßstab bei den Pannen in den Reaktoren anderer Bundesländer anlegen.