Mittwoch, 31. Oktober 2001 AP, dpa

Konsequenzen aus Pannenserie gefordert

AKW-Betreiber in der Kritik

STUTTGART, 30. Oktober. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat von Bundesumweltminister Jürgen Trittin härtere Konsequenzen aus den Pannen bei deutschen Atomkraftwerken gefordert. Da bei Überwachung und Kontrolle der Anlagen jahrelang gefährlich geschlampt worden sei, müsse den dafür Verantwortlichen die Erlaubnis für den Betrieb gänzlich entzogen werden, forderte BUND.

Der Energiekonzern EnBW kündigte unterdessen an, das AKW Philippsburg bald wieder mit normaler Leistung laufen zu lassen. Wegen Verstößen gegen die Sicherheitsbestimmungen ist ein Block des AKW seit drei Wochen vom Netz. EnBW-Vorstandschef Gerhard Goll zeigte sich am Dienstag in Stuttgart von der Zuverlässigkeit der Anlage überzeugt. Bei der Panne habe es eine Reihe menschlicher Fehler gegeben. Die notwendigen Maßnahmen seien eingeleitet worden, um Zweifel an der Zuverlässigkeit auszuschließen.

 

Frankfurter Rundschau 26.10.2001

Nukleare Pommesbude

Ein Ministerrücktritt und noch mehr die Aberkennung der atomrechtlichen Zuverlässigkeit bei EnBW würde vielleicht das - wegen möglicher Terrorgefahren zusätzlich erschütterte - Vertrauen der Bürger in die AKW-Sicherheit etwas verbessern

Von Joachim Wille

Wer Atomkraftwerke betreiben will, braucht eine Genehmigung. Wer eine Pommesbude aufmachen möchte, auch. Hier ist man mit den Parallelen, außer dass es in beiden ziemlich heiß wird, auch schon fast am Ende. Denn Atombrennstäbe reagieren bekanntlich bei Überhitzung deutlich unangenehmer als Kartoffelstäbchen.

Wer mit Atomkraftwerken Strom produziert, für den gilt das Atomgesetz. Darin sind die Sicherheitsnormen für die Auslegung der Reaktoren festgehalten - zum Beispiel, dass autonome Notkühlsysteme vorhanden sein müssen, die bei einer drohenden Kernschmelze den Super-Gau verhindern können. Aber das Gesetz fordert nicht nur Notstromdiesel und Flutbehälter als Kühlwasser-Reservoir für solche Fälle, sondern auch etwas Immaterielles: die "Zuverlässigkeit" des Betreibers.

Der Stuttgarter Stromkonzern EnBW aber ist als Atomkraft-Betreiber nicht zuverlässig. Schon der erste, kürzlich mit mehreren Wochen Verspätung bekanntgewordene Vorfall im AKW Philippsburg 2 ließ uns Zeitgenossen die Haare zu Berge stehen. Wer hätte sich bis dahin vorstellen können, dass die Reaktorfahrer ihr Kraftwerk mit einem nicht voll einsatzfähigen Notkühlsystem weiterlaufen lassen? Dass Philippsburg 2 auf Druck der Umweltminister Jürgen Trittin (Berlin) und Ulrich Müller (Stuttgart) bis zu Aufklärung, personellen Konsequenzen und organisatorischer Ertüchtigung abgeschaltet wurde, schien da die mindeste Konsequenz.

Schlimmer geht's nimmer? Klar doch: Völlig fassungslos macht nun die Erkenntnis, dass in Philippsburg bereits seit Beginn des Betriebs vor nun 17 Jahren (!) immer wieder gegen die Vorschriften zur Befüllung der Notkühl- Behälter verstoßen wurde - und das nicht aus Versehen, sondern im vollen Bewusstsein, dass damit die AKW-Bibel, das Betriebshandbuch, missachtet wird. Das ist eine neue Qualität von organisierter Schlamperei. Es habe sich in Philippsburg über lange Zeit "die Übung eingeschlichen", die Flutbehälter zu niedrig aufzufüllen, gestand EnBW-Chef Gerhard Goll ein. Damit stellte er seinem Konzern selbst das Testat "unzuverlässig" aus. Denn laut der offiziellen Atom(gesetz)-Philosophie steht und fällt der AKW-Betrieb damit, dass der Betreiber die "Sicherheitskultur" in seinen Kraftwerken auf hohem Niveau hält und dies auch kontrolliert. Lassen Betriebsmannschaften vorgeschriebene Prozeduren ausfallen, weil sie ihnen zu unbequem oder verzichtbar erscheinen, darf das nicht toleriert werden. Nicht ein einziges Mal.

Gravierende Störfälle und Fehlhandlungen von Betriebsmannschaften hat es in deutschen Atommeilern schon mehrfach gegeben. Etwa 1972, als in Würgassen bei einem Test die ganze Notstromversorgung ausfiel, oder 1987 in Biblis, als ein Absperrventil des radioaktiven Kühlkreislaufes geöffnet blieb und dies vergessen wurde. Doch das bedeutet keine Entlastung für Philippsburg, wo die Sicherheits-Unkultur offenbar System hat. Wie die Philippsburger sich zum Gespött der Fachwelt machten, als sie beim ersten Atomtransport nach Gorleben die Castor-Behälter nicht dicht bekamen, ist noch allzu gut in Erinnerung. Wenn man es aber generell mit Vorschriften nicht so genau nimmt, ist das kein menschlich-liebenswürdiger Zug, sondern eine keineswegs zu tolerierende Gefahr für die Bürger und die Umwelt.

Dass das Stuttgarter Umweltministerium als Aufsichtsbehörde und der von ihr beauftragte TÜV Süddeutschland offenbar Teil der Unkultur wurden, macht die Sache umso schlimmer. Die letzte Rückversicherung gegen ein Versagen der Eigenkontrolle der AKW-Betreiber war damit perdu. Und die verschleppte Aufklärung der Affäre im Stuttgarter Ministerium zeigt, dass die ungute Verflechtung von Kontrolleuren und Kontrollierten praktisch bis heute nicht beendet ist. Trotzdem kann der bekennende Atomfan Müller seinen Ministersessel einstweilen behalten, gestützt von CDU-Regierungschef Teufel und - mit versteinerten Mien...- gerade noch toleriert vom FDP- Koalitionspartner.

Natürlich wäre Müllers Entlassung fällig, genauso wie die mangelnde Zuverlässigkeit des Stromkonzerns EnBW auf der Hand liegt. Auch wenn der Minister das Kraftwerk und die TÜV-Akten natürlich nicht persönlich kontrolliert, so trägt er doch die Verantwortung für die Aufsicht, da gibt es kein Vertun. Und die hat, schlicht und ergreifend: versagt. Doch vor den Konsequenzen schreckt die Landesregierung zurück. Ein Ministerrücktritt und noch mehr die Aberkennung der atomrechtlichen Zuverlässigkeit bei EnBW würde zwar vielleicht das - wegen möglicher Terrorgefahren zusätzlich erschütterte - Vertrauen der Bürger in die AKW-Sicherheit etwas verbessern. Doch mit der mächtigen Stromwirtschaft wagt man sich offenbar nicht anzulegen. Wenn EnBW seine Meiler stilllegen oder verkaufen müsste, käme mehr ins Rutschen als schon jetzt, wo ein AKW-Stillstandstag in Philippsburg rund eine Million Mark kostet.

Jürgen Trittin hat angeordnet, das Sicherheitsmanagement aller deutschen AKW zu überprüfen. Das ist zu loben, aber es reicht nicht. Auch wenn es unbequem ist: Rot-Grün muss wegen des 11. September und der Philippsburg- Affäre das Thema Atom-Ausstieg mit den Konzernen offensiv neu debattieren.

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ap, 26.10.01, 14:57 Uhr

 

Verstöße gegen Vorschriften auch in Obrigheim und Neckarwestheim

Karlsruhe (AP) Auch in den baden-württembergischen Kernkraftwerken Obrigheim und Neckarwestheim hat es Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften gegeben. Wie die Energie Baden-Württemberg (EnBW) am Freitag in Karlsruhe mitteilte, handelte es sich dabei um Fehler im Bereich des Notkühlsystems der Meiler.

In Obrigheim entsprach in diesem Jahr vorübergehend die Menge der Kühlflüssigkeit sowie die Borkonzentration nicht den Vorschriften. Diese «geringen Abmängel» seien in den vergangenen Jahren in ähnlicher Art aufgetreten. Die EnBW erklärte, fest stehe, dass die Flüssigkeitsmenge und Borkonzentration jederzeit sicherheitstechnisch ausreichend gewesen sei. Im Block 1 von Neckarwestheim habe es bei der Revision im Jahr 1997 einen zu geringen Stand in der Menge der Kühlflüssigkeit gegeben.

Die EnBW will nun einen neutralen weisungsunabhängigen nuklearen Sonderbeauftragten einsetzen. Er soll alle Sicherheitssysteme überprüfen. Vorstandschef Gerhard Goll warnte in diesem Zusammenhang vor vorschnellen Beurteilungen. «Ich bekomme zunehmend den Eindruck, dass einerseits die behördlich genehmigten Betriebshandbücher widersprüchlich sind und deshalb interpretiert werden müssen, und andererseits unsere Mitarbeiter sie sicherheitstechnisch richtig interpretiert haben», erklärte er.

 

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Stuttgarter Zeitung, 24.10.01

 

Mangel an Atomgutachtern

In Philippsburg kontrolliert ein Tüv den anderen

 

STUTTGART. Die Vorfälle im Kernkraftwerk Philippsburg bringen die für die Atomaufsicht Verantwortlichen heftig ins Nachdenken. Nicht nur in Stuttgart, auch in Berlin wird erwogen, den bisherigen Usus bei der Begutachtung von Nuklearanlagen aufzubrechen.

Von Thomas Breining

"Fragen über Fragen" stellen sich auch dem Bundesumweltministerium in Berlin, nachdem bekannt wurde, dass in Philippsburg offenbar schon seit Jahren immer wieder einmal eigenmächtig an den Vorschriften vorbei gehandelt wurde. Wie konnte das der Aufsicht verborgen bleiben?

Noch drückt man sich im Hause von Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) vorsichtig aus: Im Dreieck Gutachter-Betreiber-Aufsicht "gibt es Dinge, die man überdenken und ändern muss". Freilich müssten die "Zustände" erst genau untersucht werden. "Routinebeziehungen verhindern" oder "mehr Rotation" werden als Möglichkeiten genannt. Stelle sich heraus, "dass es sich um einen systematischen Fehler handelt, wird sich die Reaktorsicherheitskommission damit befassen müssen, ob die Richtlinien für die Begutachtung verändert werden müssen".

Laut Atomgesetz müssen Errichtung, Betrieb und Stilllegung einer kerntechnischen Anlage sowie der Umgang mit radioaktiven Stoffen behördlich genehmigt und überwacht werden. Verantwortlich hierfür ist das Bundesumweltministerium. Es wird beraten von der zwölfköpfigen Reaktorsicherheitskommission. Sie erarbeitet Empfehlungen und wird dies auch im Falle Philippsburg tun. Das Tagesgeschäft im Vollzug des atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsverfahrens übernehmen im Rahmen der so genannten Bundesauftragsverwaltung die Behörden der Bundesländer. Sie wiederum lassen sich von Gutachtern beraten.

Hier wird der Engpass deutlich: In Philippsburg und den beiden anderen Atomkraftwerken in Baden-Württemberg sind ständig etwa 140 Angehörige der Tüv Energie- und Systemtechnik GmbH Baden-Württemberg tätig, einer Tochtergesellschaft des Tüv Süddeutschland. Dieser ging 1996 aus dem Zusammenschluss des Tüv Südwest und des Tüv Bayern hervor. 1999 gesellte sich dazu noch der hessische Tüv; die Bayern hatten 1992 schon die Sachsen geschluckt.

Als die ersten Pannen in Philippsburg offenbar wurden, suchte das Stuttgarter Umweltministerium nach einem neuen, unabhängigen Gutachter. Es zog dafür den Tüv Rheinland/Berlin-Brandenburg hinzu. Auch dieser Verein ist in einer Folge von Fusionen zu einem Konzern mit 11 500 Mitarbeitern geworden. Neben diesen beiden aus zahllosen technischen Überwachungsvereinen hervorgegangenen Unternehmen operiert nur noch der Tüv Nord, der sieben Bundesländer abdeckt und 4000 Beschäftigte zählt.

Als weiteren Gutachter holte das Umweltministerium ein Mitglied der schweizerischen Atomaufsicht. Gutachteraufträge grundsätzlich ins Ausland zu vergeben, hält man in Stuttgart aber nicht für praktikabel. Schließlich müsste der Sachverständige vor allem die deutschen Atomgesetze sowie die Rechte und Pflichten der Atomaufsicht kennen. So wird die Empfehlung aus Berlin verständlich, die Tüv-Organisationen bei der Begutachtung durchzuwechseln.

 

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