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DIE ZEIT 26.01.2006

Die Fronten bröckeln

Nicht alle Sozialdemokraten halten den harten Anti-Atomkraft-Kurs der Parteiführung für richtig. Nun melden sich die Kritiker zu Wort

In den Reihen der SPD wächst der Widerstand gegen den Anti-Atom-Kurs von Parteiführung und Bundestagsfraktion. Das belegt ein dreiseitiges Diskussionspapier von einer Hand voll Sozialdemokraten, darunter die beiden Europaabgeordneten Norbert Glante und Bernhard Rapkay. Unverblümt schreiben die Unterzeichner des Schriftstücks, dass »die Wirklichkeit unseren Vorstellungen davonläuft« &endash; und dass die Energiepolitik »viel zu lange von den Themen früherer Jahrzehnte beherrscht war«. Wer meine, zwischen den erneuerbaren Energiequellen und der Kernenergie wählen zu können, »verkennt die ökologischen und ökonomischen Realitäten«, heißt es weiter.

Aus Sicht der Parteispitze ist die Wortmeldung vor allem deshalb ärgerlich, weil sie sich derzeit darum bemüht, gegenüber den Kernkraftbefürwortern aus der Union einen möglichst geschlossenen Eindruck zu vermitteln. Der CDU müsse klar sein, dass die Ausstiegsposition der SPD »steht«, erklärte der Parlamentarische Staatssekretär im Umweltministerium, Michael Müller, erst Anfang der Woche in einem Interview mit der taz.

Unterdessen steigt auch die Spannung zwischen Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) und seinem Umwelt-Kollegen Sigmar Gabriel (SPD). Der Streitpunkt: Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Förderung klimaschonender Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK), oder sollte es ausgebaut werden?

Vorerst wird der Ministerzwist zwischen Gutachtern ausgetragen, deren Expertisen &endash; obwohl bereits Mitte vergangenen Jahres abgeliefert &emdash; noch unter Verschluss gehalten werden. Denn die Erkenntnisse der Experten widersprechen sich. Das vom Wirtschaftsministerium beauftragte Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart kommt zu dem Ergebnis, das im Jahr 2002 in Kraft getretene KWK-Gesetz habe seine Ziele bereits weitgehend erfüllt. Die Gutachter des Umweltministeriums &endash; das Öko-Institut sowie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) &endash; meinen hingegen, dass die KWK-Technik »weit davon entfernt« sei, sich unabhängig von einer politischen Flankierung als »autonomer Trend durchzusetzen«. Die Empfehlung lautet also, die KWK-Anlagen für eine begrenzte Zeit weiter zu fördern; die IER-Gutachter votieren für eine abgespeckte Unterstützung. (vo)

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TAZ 20.01.2006

Austausch alter Argumente

Eine erneute Debatte um Laufzeiten wäre so schädlich wie ein veraltetes Atomkraftwerk selbst - sie muss abgeschaltet werden, bevor sie wieder unsere Energien verschwendet. Ein Plädoyer für Effizienz

VON MARTIN UNFRIED

Herr Glos murmelt, man müsse nochmals drüber nachdenken. Ich bin anderer Meinung. Niemand sollte auch nur einen Gedanken daran verschwenden und sich überlegen, ob wir nochmals darüber nachdenken sollten. Denn was man überhaupt nicht machen sollte, ist nochmals irgendwie drüber nachdenken. Und darüber reden schon gar nicht. Wir haben für Atomenergie einfach keine Zeit. Nicht weil ich ein notorischer Atomenergiegegner bin. Sondern weil auf dem Altar des Atomstreits in Deutschland bereits zu viel Lebenszeit geopfert wurde.

Was hätte man in den 70er- und 80er-Jahren alles tun können: mehr Kinder zeugen, Holzfiguren schnitzen, sich besser zuhören. Stattdessen war die eine Hälfte am Bauzaun Steine werfen und die andere damit beschäftigt, Politiker zu massieren.

So muss ich wohl Wirtschaftsminister Glos daran erinnern, dass er in erster Linie an die Volkswirtschaft denken sollte, an die Gesundheitskosten und an die ohnehin schon zerrütteten Familien.

Denn was bedeutet "nochmals drüber nachdenken"? Koalitionsstreit, Leitartikel, Internetforen, "Christiansen", vielleicht wieder Demos, Lobby-Aktivitäten der Industrie, Schmiergeld, Anfeindungen, Beleidigungen, Rechtsmittel - gegen oder für die Atomkraft. Und wofür das alles? Um einige Kisten 10 Jahre länger laufen zu lassen?

Das ist das wahre Problem der Atomdebatte: Eine Laufzeitverlängerung wäre in erster Linie Energieverschwendung. Verpufft, verschwendet, vergeudet würde die Energie und damit die Lebenszeit eines nicht ganz unwichtigen Teils der Gesellschaft. Egal wie die Debatte ausgehen würde, wir hätten alle verloren: Nerven und Zeit für andere wichtige Dinge. Und wofür das alles? Um uns die alten Pro- und Contra-Klassiker zuzurufen, die wir zur Genüge kennen?

Wenn die Duden-Redaktion schon vor Jahren alle Argumente und Gegenargumente einander sauber gegenübergestellt hätte (siehe Kasten), wie viele Stunden unnützen Debattierens wären uns erspart geblieben?

Denn das Beste am Ausstiegsbeschluss war bekanntlich die Ruhe, die danach herrschte. Außer den Wendland-Bewohnern (Arschkarte) hatten alle erst mal Pause. Das war ausgezeichnet für die Volkswirtschaft, denn der Streit um die Kernkraft hatte bei beiden Seiten oft zu Bluthochdruck geführt, was auch für die Krankenkassen nicht gut ist.

Wer sich um Kernkraft kümmert, kann nicht gleichzeitig shoppen gehen - die Probleme mit der Binnennachfrage sind bekannt. Soll das alles von vorne beginnen? Nein, Papa gehört am Samstag in den Baumarkt und nicht an den Bauzaun. Und Frau Christiansen könnte doch auch mal über journalistische Störfälle diskutieren.

Überhaupt brauchen wir dringend mehr Zeit, um in den Keller zu gehen. Da hängt häufig der Stromzähler. Den müssen wir nämlich ablesen, und zwar jeden Tag, um Wochen- und Monatsberichte zusammenzustellen: Solange selbst ökologisch motivierte Zeitgenossen mir beim Verhör ihren jährlichen Strom- und Gasverbrauch sowie ihr Reduktionsprogramm für eine Halbierung desselben bis 2010 nicht auswendig aufsagen können, diskutiert mir hier niemand mehr über Kernkraft. Und dämliche Leserbriefe dürfen die auch nicht mehr schreiben. Dasselbe gilt für Michael Glos und die Vorstandsvorsitzenden der Energie- und Industrieunternehmen.

Wir haben einiges einzusparen. Sparen wir uns also zuerst eine neue Atomdebatte.

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taz 26.01.2006

Genossen zweifeln an Atomausstieg

Über die Laufzeiten von Reaktoren müsse neu nachgedacht werden, fordert der SPD-Europapolitiker Norbert Glante

BRÜSSEL taz In der SPD regt sich Widerstand gegen den Atomkonsens. Bei einem energiepolitischen Stammtisch in Brüssel sagte der brandenburgische Europaabgeordnete Norbert Glante, SPD, seine Partei blende die Atomkraftdiskussion in Europa völlig aus. "Rundherum entwickelt sich diese Industrie. Doch die Sozialdemokraten zu Hause wollen die besseren Grünen sein. Über die Laufzeit von Kernkraftwerken muss neu nachgedacht werden."

Der SPD-Parteivorsitzende und brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck hatte noch am Dienstag jeden Richtungswechsel in dieser Frage ausgeschlossen. "Es bleibt beim Atomausstieg." Ganz anders liest es sich in einem Diskussionspapier, mit dem der energiepolitische Stammtisch in Brüssel "eine breitere und offene Diskussion in der Partei initiieren" will. "CO2-freie Kohlekraftwerke, sichere Kernenergie und erneuerbare Energien sowie Maßnahmen zum effizienten Umgang mit Energie müssen gleichermaßen entwickelt werden." Versorgungssicherheit sei zunehmend eine "europäische, wenn nicht globale Aufgabe".

Die derzeitige Lage malt der Bericht in düsteren Farben. Der veraltete Kraftwerkpark in Europa werde in den kommenden Jahrzehnten Investitionen zwischen 200 und 300 Milliarden Euro erfordern. Europäische Firmen verfügten weder über genug Produktionskapazitäten noch über ausreichend Fachkräfte. Die Erneuerung sei also "ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für außereuropäische Firmen". Zudem weisen die Politiker auf die zunehmende Abhängigkeit in der Energieversorgung von Importen aus dem Ausland hin. 2030 werde 90 Prozent des Erdöls und 80 Prozent des Erdgases von außerhalb der EU eingeführt werden müssen.

Der Gazprom-Schock vom Jahresbeginn hat dazu geführt, dass die Europäer in der Energiepolitik enger zusammenrücken wollen. Polens Regierung will die EU-Staaten für einen Energiebeistandspakt gewinnen. Dieser soll ähnlich dem Nato-Pakt dafür sorgen, dass alle Paktmitglieder ein Land verteidigen, dem der Gashahn abgedreht wird. Europäische Energiepolitik sei zunehmend auch Außenpolitik, schreiben zu diesem Thema die SPD-Energiepolitiker. "Europa ist dazu berufen, dem globalen Zugriff auf Öl den Stachel des Konflikts zu ziehen. Es darf nicht zu Kriegen um Rohstoffe kommen."

Darin sind sich Europas Regierungen sicher einig. Doch die Vorstellungen, wie die Energieversorgung gesichert werden soll, gehen weit auseinander. Der österreichische Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sagte es letzte Woche im Europaparlament klipp und klar: "Aus österreichischer Sicht ist die Nutzung der Kernenergie keine Option." Frankreichs Präsident Jacques Chirac dagegen legte ein Memorandum vor, das zwar auf mehreren Seiten erörtert, wie Energie besser genutzt werden kann. Doch am Ende heißt es lapidar, der bisherige Anteil von 34 Prozent Atomenergie am Energiemix müsse erhalten bleiben.

Europas Bürger dagegen setzen laut jüngster Eurobarometer-Umfrage mehrheitlich auf erneuerbare Energien. Nur 12 Prozent wollen die Atomkraft weiter ausbauen. Immerhin 40 Prozent der Befragten wären bereit, für Erneuerbare deutlich mehr zu bezahlen als für Gas, Kernkraft oder Öl. In Osteuropa allerdings ist diese Bereitschaft deutlich geringer ausgeprägt als im Westen.

DANIELA WEINGÄRTNER

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Reuters 19.06 2006

Gabriel: Ökostrom kann Atom-Ausstieg bis 2020 auffangen

Berlin (Reuters) - Bundesumweltminister Sigmar Gabriel erwartet eine Verdreifachung der Ökostrom-Produktion bis 2020. Strom aus Wind, Wasser oder Sonne werde damit den sinkenden Atomstrom-Anteil auffangen.

Unter den geltenden Rahmenbedingungen könne dann aus erneuerbaren Energien dreimal so viel Strom wie heute produziert werden, sagte der SPD-Politiker am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung eines Regierungsgutachtens. "Die kurze Geschichte der erneuerbaren Energien in Deutschland ist eine echte Erfolgsstory." Der Ausbau schaffe zugleich massiv Arbeitsplätze. Derzeit seien in der Branche 130.000 Menschen beschäftigt. Die Studie gehe bis 2020 von einer Verdopplung aus. "Der kräftige Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ist dabei zu sehr vertretbaren Kosten realisierbar", betonte der Minister.

Die Kosten eines durchschnittlichen Drei-Personen-Haushalts würden bis 2017 auf monatlich 2,80 Euro von derzeit 1,50 Euro steigen, sagte Gabriel. Danach würden die Belastungen sinken, da Ökostrom dann konkurrenzfähig sei. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in seiner jetzigen Form werde dann überflüssig. Im Gesetz ist geregelt, dass der garantiert höhere Preis für Ökostrom-Erzeuger durch eine Umlage auf alle Verbraucher bezahlt wird.

Die Experten gingen davon aus, dass der Stromverbrauch in Deutschland in den nächsten 15 Jahren trotz Wirtschaftswachstums stabil bleibe, sagte der SPD-Politiker. Dies werde vor allem durch stärkeres Energiesparen gelingen. "Damit ist ein Anteil der Erneuerbaren Energie an der deutschen Stromversorgung von 25 Prozent durchaus machbar." In der Koalitionsvereinbarung hatten sich Union und SPD ein Ziel von 20 Prozent gesetzt.

Windkraft werde dem Gutachten zufolge bis 2020 die Hälfte des Ökostroms ausmachen, besonders durch Anlagen auf hoher See. Die Stromversorgung aus Biomasse lege zudem deutlich zu. Sonnenstrom werde sich gar verelffachen. 2020 könnten somit 110 Millionen Tonnen des klimaschädlichen Kohlendioxid vermieden werden, also 60 Millionen Tonnen mehr als heute.

STUDIE: ARBEITSPLÄTZE VERDOPPELN SICH BIS 2020

Allein zwischen 2010 und 2020 sei zudem mit rund 50 Milliarden Euro an Investitionen rund um die Ökostrombranche zu rechnen, heißt es. Dies werde wiederum dazu führen, dass die Zahl der Arbeitsplätze sich verdoppeln werde. Gabriel wies Kritik zurück, wonach die Förderung des Ökostroms zu teuer sei. Es gelte als völlig normal, dass der Staat mit Steuergeld und Schulden Investitionen fördere, mit dem Ziel Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem zeige die Studie, dass unter Berücksichtigung aller Kosten der anderen Energieträger wie etwa Umweltbelastungen, Ökostrom schon jetzt an der Schwelle zur Wirtschaftlichkeit stünde.

Das Gutachten wurde vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, dem Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie sowie dem Zentrum für Sonnenenergie und Wasserstoffforschung (ZSW) erarbeitet.

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Die Welt, 17.01.2006

Energiepolitik: Glos pocht auf Führungsrolle

Trotz kategorischer Ablehnung der SPD setzt Wirtschaftsminister Michael Glos weiter auf Atomkraft. Energiepolitik sei in erster Linie Wirtschaftspolitik, so der CSU-Politiker.

Für Michael Glos steht Wirtschaftlichkeit vor Klimaschutz

Berlin - Bundeswirtschaftsminister Michael Glos hat die führende Rolle seines Ressorts in der Energiepolitik betont und sich in zentralen Fragen von Umweltminister Sigmar Gabriel abgesetzt.

„Energiepolitik ist in allererster Linie Wirtschaftspolitik," sagte der CSU-Politiker am Dienstag bei einer Energietagung in Berlin. Die Energiepolitik verfolge viele Ziele, dabei dürfe aber keines mehr Gewicht als ein anderes haben. „Auch nicht der Klimaschutz." Der geplante Energiegipfel werde in allererster Linie von seinem Ressort vorbereitet, das Umweltministerium könne einen Beitrag leisten.

Glos plädierte erneut, für eine Beibehaltung der Kernenergie im künftigen Energiemix: „Ich meine die Diskussion über die Kernenergie schließt auch die Koalitionsvereinbarung nicht aus." Der Minister deutete ferner an, daß er trotz der im Koalitionsvertrag beschlossenen Beibehaltung des Gesetzes zur Förderung von Ökostrom, an Änderungen denkt. „Wir müssen erneuerbare Energien weiter fördern, aber mit einem geschärften Blick für ihrer Verfügbarkeit und ihre Wirtschaftlichkeit".

Gabriel beharrt auf Atomausstieg

Die Zuständigkeit für die Energiepolitik ist zwischen dem Wirtschafts- und dem SPD-geführten Umweltministerium geteilt. Das Umweltressort ist für die Atomaufsicht, den Klimaschutz und den Ökostrom zuständig. Nach der Kabinettsklausur in Genshagen hatte es daher auch geheißen, der Energiegipfel werde von beiden Ressorts gemeinsam vorbereitet. Umweltminister Gabriel besteht unter anderem auf dem Atomausstieg, wonach das letzte deutsche AKW etwa um das Jahr 2020 abgeschaltet werden muß.

Glos dämpfte allerdings allzu große Erwartungen an den Gipfel im April: „Der Gipfel muß nicht mit konkreten Beschlüssen enden." Der Minister verlangte allerdings von den Energie-Unternehmen in Kürze verläßliche Zusagen über ihre Investitionen in neue Kraftwerke.

Auch beim Emissionshandel werde es Änderungen geben, die die sogenannten Windfall-Profits - also Mitnahmeeffekte - bei den Versorgern eindämmen werde. Die Unternehmen legen derzeit den Markt-Preis für Zertifikate im Abgas-Handel auf den Strompreis um. Die Zertifikate haben sie allerdings von der Bundesregierung zunächst kostenlos zugeteilt bekommen. In der nächsten Handelsperiode ab 2008, bei der erneut Zertifikate zugeteilt werden, solle dies geändert werden, machte Glos deutlich. WELT.de/rtr

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Die Presse.com 18.01.2006

Energie: Krach um die Nutzung der Kernkraft

Von unserem Korrespondenten THOMAS VIEREGGE (Die Presse) 18.01.2006

In Deutschland rüttelt die Union immer offener am Atomausstieg.

BERLIN. Eine Woche nach dem Machtwort von Kanzlerin Angela Merkel ist in Deutschland der Streit um den Atomausstieg neuerlich voll entbrannt. Bei der Regierungsklausur in Genshagen hatte die Kanzlerin, eigentlich eine Befürworterin der Kernenergie, ein Ende der Debatte dekretiert. Doch CDU/CSU rütteln unter dem Eindruck der kurzzeitigen Gasabschaltung Russlands in der Ukraine an den Sperrzeiten der deutschen Atomkraftwerke, um so mehr Autarkie in der Energieversorgung zu erlangen. Für die SPD ist dies ein Tabu.

Führende Ministerpräsidenten der Union plädieren für eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke. Der hessische Regierungschef Roland Koch will sich mit Hinweis auf das Beispiel Frankreich sogar die Option für den Bau neuer Kernkraftwerke offen halten: "Das ist eine technische und ökonomische Frage, aber nicht eine ideologische."

Nun hat sich auch Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) in den schwelenden Konflikt mit dem für die Atomaufsicht zuständigen Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) eingeschaltet. Gabriel pocht auf das Ende des Atomzeitalters, Glos auf seine Kernkompetenz in der Energiepolitik. "Energiepolitik ist in allererster Linie Wirtschaftspolitik", sagte er bei einer Energietagung in Berlin an die Adresse Gabriels. Dieser hatte seinem Kollegen beschieden, ein Umweltminister sei zugleich immer Wirtschaftsminister und umgekehrt.

Die beiden Minister bereiten einen Energiegipfel im Frühjahr vor. Indirekt stellte Glos auch die Koalitionsvereinbarung zur Disposition. Die rot-grüne Koalition hatte einen Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2020 fixiert, die Nachfolgeregierung hat diese Vereinbarung übernommen. Demnach müssten bis 2009 - bei gleich bleibender Leistung - vier Atomkraftwerke vom Netz gehen. Unionspolitiker haben nun Vorschläge ventiliert, die Produktion von Atomstrom zu drosseln, um eine Abschaltung aufzuschieben. Bei veränderten Mehrheitsverhältnissen im Bundestag, so das Kalkül, könnten sie die Entscheidung für den Atomausstieg abmildern oder gar revidieren. Eine andere Überlegung sieht vor, die Restlaufzeiten jüngerer AKW auf ältere zu übertragen. Für den umgekehrten Fall hält das Gesetz eine Klausel bereit. Dadurch könnten Reaktoren älteren Typs schneller vom Netz genommen werden, modernere hingegen länger laufen. Inzwischen haben die Grünen Alarm geschlagen. Bei einer Aufweichung des Atomkurses drohen sie mit Massenprotesten.

Während in Deutschland noch über den Ausstieg gestritten wird, bereitet Großbritannien den Bau von bis zu zehn neuen Reaktoren vor. Und das, obwohl Premier Tony Blair mit dem Ziel angetreten war, alle britischen AKW abzuschalten. Frankreich arbeitet bereits an der Entwicklung neuer Reaktoren. In Schweden, das sich ebenfalls auf einen Atom-Ausstieg festgelegt hat, werden Milliarden investiert, um die Leistungsfähigkeit bestehender Anlagen auszureizen, Italien will den Ausstieg überhaupt rückgängig machen.

Die Gründe für die "Wende": Die Nutzung der Kernkraft scheint die einzige Chance für Europa zu sein, energiepolitisch unabhängiger zu werden. Hinzu kommt, dass enorme Kraftwerkskapazitäten aufgebaut werden müssen (siehe Infokasten). Dass dieser Bedarf nicht mit erneuerbaren Energieträgern zu decken ist, wissen auch Vertreter der Öko-Branche. Allerdings verweisen sie auf die Frage der Sicherheit und vor allem auf das ungelöste Problem der Endlagerung des Atommülls.

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Tagesschau 17.01.2006

Streit um Restlaufzeiten der AKW

Heimlicher Ausstieg aus dem Ausstieg?

Von Frank Thadeusz, tagesschau.de

Problemfall Biblis: Eine alte Anlage von fragwürdiger Sicherheit, die jedoch reichlich Profit erwirtschaftet.

Laut Plan soll der Atomausstieg in der laufenden Legislaturperiode einen großen Schritt vorankommen. Die Abschaltung von gleich vier alten Atommeilern steht an: Die Anlagen Biblis A und B sowie Neckarwestheim 1 und Brunsbüttel sollen im Zeitraum von 2007 bis 2009 als nächstes vom Netz gehen.

Umweltschützer fürchten jedoch, dass sich die Energieversorgungs-Unternehmen völlig legal um den im Atomgesetz beschlossenen Ausstieg herumdrücken. Das mögliche Kalkül der Konzerne: In der kommenden Legislaturperiode regiert in Berlin womöglich eine atomfreundliche schwarz-gelbe Regierung. Mit deren Unterstützung könnten die Konzerne dann ihre alten, aber hochprofitablen Kernkraftwerke weiter betreiben.

"Heimlicher Ausstieg möglich"

Wäre diese Art heimlicher Ausstieg aus dem Atomausstieg denkbar? "Die Möglichkeit besteht, denn die Strommenge bestimmt den Zeitpunkt der Abschaltung. Aber wir gehen davon aus, dass die Energieindustrie zu den mit der Bundesregierung geschlossenen Verträgen steht", sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums (BMU) gegenüber tagesschau.de. Allerdings könnten die Energieversorger die Laufzeiten ihrer Atomanlagen auch verlängern, ohne gegen geltende Abmachungen zu verstoßen.

Wann muss wirklich abgeschaltet werden?

Zwar haben die Konzerne mit der rot-grünen Regierung eine maximale Laufzeit von 32 Jahren für die Meiler ausgehandelt. Demnach müsste beispielsweise rein rechnerisch das 1976 ans Netz gegangene Brunsbüttel 2008 abgeschaltet werden. Tatsächlich aber bemisst sich die Lebenszeit jedes einzelnen der noch bestehenden 17 AKW in Deutschland an einer Reststrommenge, die nach einem komplizierten Schlüssel errechnet wurde.

Hinzu kommt eine weitere Besonderheit des Atomkonsenses: Wenn die Betreiber ältere Kernkraftwerke früher als vorgesehen abschalten, dürfen sie deren Reststrommengen ohne Genehmigung des BMU auf die neueren Anlagen übertragen. So könnte etwa Biblis B, das eigentlich gegen 2009 fällig wäre, von den gewaltigen Reststrommengen des bereits 1988 abgeschalteten AKW Mühlheim-Kärlich profitieren. Die Rede ist hier von 21,45 Milliarden Kilowattstunden. Zum Vergleich: Eine vierköpfige Familie verbraucht im Jahr etwa 3500 Kilowattstunden.

Gewaltige Reststrommengen zu vergeben

Auch das ebenfalls bereits vom Netz gegangene AKW Stade hat noch Reste zu vergeben. Diese könnten Brunsbüttel über das Jahr 2009 am Leben erhalten. Die Energie Baden-Württemberg AG kann zwar für ihren Meiler Neckarwestheim 1 keine Reststrommengen beanspruchen. Doch auch die EnBW könnte auf Zeit spielen: etwa, indem sie - völlig legal - die Stromproduktion drosselt oder die Atomanlage für Wartungsarbeiten befristet ausschaltet.

Ungleich schwieriger steht der Fall für Betreiber RWE beim ältesten Deutschen AKW, Biblis A: Denn die Reststrom-Übertragung von neuen auf alte Atomstromanlagen bedarf laut Atomgesetz einer "Ausnahmegenehmigung". RWE müsste Bundesumweltminister Sigmar Gabriel in einer vergleichenden Sicherheitsanalyse nachweisen, dass die Altanlage zumindest auf dem gleichen Sicherheitsniveau steht wie die Neuanlage.

Pure Gelddruckmaschinen

Dann könnte der Minister einem Stromtransfer von neu auf alt zustimmen. Davon ist bei Biblis A allerdings kaum auszugehen. So kritisierte Gabriel im Spiegel die fehlende Notstandswarte, "um die Anlagen in einem echten Störfall von außen fahren zu können". Auf Anfrage von tagesschau.de teilte ein Sprecher von RWE mit, der Konzern befinde sich derzeit in einem "Prüfungsprozess", ob er für Biblis A eine Ausnahmegenehmigung beim BMU beantragen solle.

Einmal gab es eine Übertragung von neu auf alt jedoch bereits. So übertrug EnBW 2002 einen Teil der Restlaufzeit des AKW Philipsburg 1 auf das AKW Obrigheim, das am 11. Mai 2005 endgültig vom Netz ging.

Dass die Energieversorger sehr an ihren Altanlagen hängen, scheint nachvollziehbar. "Die Investitionskosten für Kernkraftwerke sind zunächst sehr hoch", sagt der Umweltforscher und ehemalige Atommanager Klaus Traube, "die Betriebskosten sind dagegen relativ gering". Maßgeblich für die Rentabilität der Anlagen sei, wie viel der Investitionskosten bereits abgetragen seien. Nach dieser Rechnung sind die in den kommenden vier Jahren zur Abschaltung stehenden vier Atommeiler pure Gelddruckmaschinen. Denn diese Anlagen aus den siebziger Jahren haben ihre Kosten längst mehr als eingespielt.

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TAZ 17.01.2006

AKW-Kontrolleure werden kontrolliert

Bundesumweltminister Gabriel will internationale Experten nach Deutschland holen, damit sie die Atomaufsicht überprüfen. Das wirkt wie ein spektakulärer Affront gegen die unionsregierten Länder, die vor allem für die AKW-Kontrolle zuständig sind

von BERNWARD JANZING

Geht der Atomstreit zwischen SPD und Union in eine neue Runde? Der jüngste Auftritt von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) wirkte durchaus spektakulär: Er kündigte an, die deutsche Atomaufsicht von Fachleuten aus dem Ausland untersuchen zu lassen. Dies ließe sich als Drohung an die Länder verstehen, denn sie vor allem überwachen die Reaktoren. Zudem haben einige Unions-Ministerpräsidenten die SPD in den letzten Wochen mit der Forderung verärgert, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern. Schließlich stehen im März drei Landtagswahlen an.

Doch das Bundesumweltministerium wiegelte gestern ab und wollte von einem politischen Konflikt nichts wissen: Externe Kontrollen seien auch in anderen Staaten üblich. "Daraus können die jeweiligen Atomaufsichtsbehörden lernen und somit ihre Effizienz verbessern", sagte ein Sprecher der taz. Auch andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, Kanada und die USA hätten sich bereits entschieden, ausländische Atomexperten in Anspruch zu nehmen, oder diskutierten diesen Schritt noch.

Am Wochenende hatte Gabriel noch kampfeslustiger geklungen. Er nutzte ein Spiegel-Interview, um eine "unabhängige Prüfung der Struktur und Standards unserer Atomaufsichtspraxis" anzukündigen. Er habe die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) gebeten, ein Überprüfungsteam nach Deutschland zu entsenden. Er wolle "alles tun, um das Sicherheitsmanagement der deutschen Atomkraftwerke gezielt zu verbessern" - ein Schritt, den er "für notwendig und verantwortungsbewusst" halte. Der Überprüfungsprozess werde voraussichtlich noch in diesem Jahr beginnen.

Gerade in Deutschland ist die Atomaufsicht besonders anfällig für ineffiziente Abläufe. Denn die eigentliche Kontrollaufgabe liegt bei den Ländern, die wiederum vom Bund überwacht werden. Diese Kompetenzverteilung werde "in der internationalen Community kritisch gesehen", hatte Gabriel in seinem Interview erklärt. In der Tat hatte es in der Vergangenheit schon öfter Querelen zwischen Bundes- und Länderbehörden gegeben. So stritten sich 2004 der damalige Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) und sein bayerischer Amtskollege Werner Schnappauf (CSU), ob der Meiler Isar I ausreichend gegen terroristische Flugzeugangriffe geschützt sei.

In den Ländern wachen meist sieben bis acht Ministeriumsbeamte - oft als eigenes Referat organisiert - über jeweils einen Atomreaktor. Es sind überwiegend Techniker. Die AKW-Betreiber müssen die Kosten dieser Aufsicht zumindest teilweise tragen. In Baden-Württemberg zum Beispiel wird für jeden Reaktorblock ein Betrag von 400.000 Euro pro Jahr an das Land fällig. Verlangen die Behörden weitere Gutachten, so sind diese in der Regel noch um ein Vielfaches teurer. Mit diesen Expertisen werden die einschlägigen technischen Institutionen betraut, vor allem der TÜV.

Das Bundesumweltministerium (BMU) wiederum verfügt in bestimmten Fragen über eine Weisungskompetenz gegenüber den Ländern - etwa beim Standort von Zwischenlagern. Mit dieser "Recht- und Zweckmäßigkeitsaufsicht" sind 13 Mitarbeiter des Ministeriums betraut. Die gesamte Abteilung Reaktorsicherheit im BMU beschäftigt etwa 75 Mitarbeiter, wobei sie auch die Fabrikation von Brennelementen, den Betrieb von Forschungsreaktoren sowie die atomaren Zwischenlager überwachen. Diese Aufsicht bezahlen übrigens die Steuerzahler: An den Kosten der Reaktorsicherheit auf Bundesebene werden die AKW-Betreiber nicht beteiligt.

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Tagesschau 16.01.2006

Dezentrale Zwischenlager an Atomkraftwerken

Die derzeit vielerorts im Bau befindlichen Standortzwischenlager oder dezentralen Zwischenlager an Atomkraftwerken sind Resultate der Atom-Ausstiegsvereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energiekonzernen aus dem Jahr 2000. Darin ist festgeschrieben, dass Kraftwerksbetreiber abgebrannte Brennelemente ab Juli 2005 nicht mehr in die Wiederaufarbeitungsanlagen Sellafield (Großbritannien) und La Hague (Frankreich) abtransportieren lassen dürfen.

Vorbereitung auf die Endlagerung

Stattdessen werden die Brennelemente künftig direkt auf ihre Endlagerung vorbereitet. Weil sie nicht nur hoch radioaktiv, sondern auch vorstellbar heiß sind, dauert dieser Vorbereitungsprozess allerdings Jahrzehnte. Er beginnt mit einem ersten Abkühlen und Abklingen der Radioaktivität im Nassen, in einem Becken des Atomkraftwerks. Dann wird er im Trockenen fortgesetzt. In Behältern wie dem so genannten CASTOR (Cask for Storage and Transport of Radioactive Material) lagert man die Brennelemente zwischen. Dabei sollen sie nicht nur weiter abkühlen und - klingen. Die Zwischenlagerung ist auch insofern unumgänglich, als es bislang kein Endlager für hochradioaktiven Abfall gibt. Die Bundesregierung plant die Inbetriebnahme eines solchen Lagers erst bis 2030.

Zentrale Zwischenlagerung verworfen

Ursprünglich war in Deutschland eine zentrale Zwischenlagerung des hochradioaktiven Atommülls vorgesehen. Hierfür wurden die Transportbehälterlager in Gorleben und in Ahaus errichtet. Wohl auch vor dem Hintergrund der Proteste von Atomkraftgegnern gegen die Atomtransporte dorthin rückte man bei der Neufassung des Atomgesetzes nach dem Ausstiegsbeschluss jedoch von der zentralen Zwischenlagerung ab. Stattdessen sollen die Brennelemente nun in eigenen Hallen an den Akw-Standorten untergebracht werden. Geplant und vom Bundesamt für Strahlenschutz genehmigt sind insgesamt zwölf dieser Standortzwischenlager. Bis zu ihrer Fertigstellung wird der Atommüll in eigens errichteten so genannten Interimslagern, ebenfalls vor Ort, untergebracht.

Anwohner und Umweltschützer sehen Sicherheitsmängel

Bei den Standortzwischenlagern handelt es sich um Hallen aus Stahlbeton, bzw. - in Neckarswestheim - um einen Lagertunnel. Genehmigt ist eine Betriebszeit von 40 Jahren ab dem Zeitpunkt der Einlagerung eines ersten Behälters. Aus der Sicht von Umweltschützern und Anwohner-Initiativen, die sich vielerorts gebildet haben, ist die Atommüll-Lagerung in diesen Bauten mit Risiken für die Bevölkerung verbunden. Die Organisation Robin Wood etwa kritisiert, dass die Hallen zur Kühlung der abgebrannten Brennelemente über offene Lüftungsschlitze verfügen. Eine Raumluftüberwachung oder Filter, die radioaktive Partikel zurückhalten könnten, seien nicht vorgesehen. Das Bundesamt für Strahlenschutz weist diese Bedenken zurück und argumentiert, dass bereits die Atommüll-Behälter den sicheren Einschluss des radioaktiven Inhalts gewährleisten und die Strahlung innerhalb der entsprechenden Grenzwerte halten würden.

Kein Ende der Castor-Transporte nach Gorleben und Ahaus

Ungeachtet des Protestes werden die dezentralen Zwischenlager voraussichtlich an allen geplanten Standorten errichtet werden. Ihr Bau und das Verbot der Transporte in die Wiederaufarbeitungsanlagen ab Mitte 2005 wird nicht selten irrtümlich mit einem Ende der Atommülltransporte nach Gorleben in Verbindung gebracht. Tatsächlich wird es diese Transporte noch viele Jahre geben, denn Deutschland ist zur Rücknahme seines Atommülls aus der Wiederaufarbeitung verpflichtet. Große Mengen davon lagern noch in La Hague und Sellafield und nur das Zwischenlager Gorleben besitzt derzeit eine Genehmigung, diesen Müll einzulagern.

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Spiegel-Online 14. Januar 2006

AKW-LAUFZEITEN

CDU will Gabriel beim Atomausstieg übergehen

Beim Streit über einen Atomausstieg will die CDU Umweltminister Gabriel bei der Verlängerung der AKW-Laufzeiten im Notfall übergehen. Der SPD-Politiker sieht dagegen erhebliche Sicherheitsmängel bei den deutschen Kernkraftwerken.

Hamburg - Aus einem sechsseitigen Strategiepapier von CDU-Energieexperten für das Parteipräsidium geht hervor, dass die Union Möglichkeiten sieht, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke im Notfall ohne Zustimmung von Gabriel zu verlängern. Die SPD habe sich offenbar für ein "stures Festhalten am Atomkonsens entschieden", heißt es nach SPIEGEL-Informationen in dem Papier. Deshalb müsse nach Wegen gesucht werden, wie "die Verweigerungshaltung des Umweltministers neutralisiert werden" könne.

Im Zentrum der Überlegungen steht das Verfahren, nach dem so genannte Restlaufzeiten von neueren auf ältere Reaktoren übertragen werden können. Dabei haben die Autoren Widersprüche zwischen dem Text des Atomgesetzes und dem des Ausstiegsvertrages mit der Industrie ausgemacht.

Während das Gesetz dem Umweltminister ausdrücklich ein Mitentscheidungsrecht zubilligt, liege die entsprechende Kompetenz laut Ausstiegsvertrag bei einer "hochrangigen Arbeitsgruppe aus drei Vertretern der Bundesregierung unter Vorsitz des Kanzleramtschefs". Die Regierung könne also klarstellen, dass "der Kanzleramtschef der Handelnde" und der Umweltminister lediglich "Vollziehender der Entscheidung" sei, heißt es in dem Papier weiter.

Zugleich erörtern die Autoren Möglichkeiten für einen Atomkompromiss mit den Sozialdemokraten. Wenn die SPD längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke zustimme, seien im Gegenzug etwa eine zusätzliche Förderung für effiziente Windkraftanlagen oder eine Beteiligung der Stromindustrie an den Anschlusskosten neuer Windräder in Nord- und Ostsee denkbar.

Gabriel dagegen hat Zweifel an der Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke angemeldet und eine mögliche Reform der Atomaufsicht in Aussicht gestellt. "Das Sicherheitsmanagement weist auch in deutschen Anlagen erhebliche Mängel auf", sagte er dem SPIEGEL. "Es heißt immer, wir hätten die sichersten Atomkraftwerke. In der Technologie mag das für die neueste Generation noch stimmen. Für die alten stimmt das nicht."

Als negative Beispiele nannte der Minister die Reaktoren im hessischen Biblis. "Biblis A und B haben nicht einmal eine unabhängige und gebunkerte Notstandswarte, um die Anlage in einem echten Störfall von außen fahren zu können", kritisierte Gabriel.

Der SPD-Politiker kündigte eine Überprüfung der Struktur der deutschen Atomaufsicht in Bund und Ländern durch unabhängige Experten an. Sein Ministerium habe die Internationale Atom-Agentur gebeten, ein Überprüfungsteam nach Deutschland zu entsenden, so Gabriel. Es solle voraussichtlich noch in diesem Jahr die Arbeit aufnehmen.

"Ich will eine unabhängige Prüfung der Struktur und des Standards unserer Atomaufsichtspraxis, um hinterher sagen zu können, ob und was wir in diesem Bereich verbessern können", sagte der SPD-Politiker. "Allein die Tatsache, dass die Verantwortung zwischen Bund und Ländern geteilt ist, wird in der internationalen Community kritisch gesehen."

Mehrheit der Deutschen nicht vom Atomausstieg überzeugt Eine klare Mehrheit der Deutschen ist nicht vom Atomausstieg überzeugt: 56 Prozent der Bundesbürger sind laut einer TNS-Infratest-Umfrage im Auftrag des SPIEGEL dafür, dass die Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie überdenkt. Nur 40 Prozent sprechen sich dafür aus, an dem Beschluss der früheren rot-grünen Bundesregierung festzuhalten.

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TAZ, 12.01.06

Energiegipfel ohne Tagesordnung

Kanzlerin Merkel plant einen "Energiegipfel", um den Streit über die AKW- Laufzeiten zu schlichten. Sie scheint die Zusatzabsprachen im Atomkonsens nicht zu kennen

BERLIN taz Strategisches Kalkül: Drei Landtagswahlen finden im März statt - also hat Kanzlerin Angela Merkel den koalitionsinternen Energiegipfel auf Anfang April verschoben. Er soll den Konflikt über den Atomausstieg zwischen Union und SPD entschärfen. Doch gibt es überhaupt einen Konflikt?

In den letzten Tagen stellten Unions-Ministerpräsidenten gern und intensiv den Atomkonsens in Frage. Der sieht vor, bis zum Ende der Legislaturperiode vier Atomreaktoren abzuschalten. Die so genannte Regellaufzeit endet für Biblis A am 26. Februar 2007, für Neckarwestheim I am 1. Dezember 2008, für Biblis B und Brunsbüttel Anfang 2009.

Doch tatsächlich geht es im koalitionsinternen Streit nur um zwei Reaktoren: Biblis A und Neckarwestheim. Denn "Biblis B und Brunsbüttel werden nicht abgeschaltet", sagt der Atomexperte Klaus Traube. Schließlich können von anderen AKWs legal Laufzeiten übertragen werden. Gemäß Atomkonsens darf Biblis B Laufzeit von Mülheim-Kärlich übernehmen, Brunsbüttel Laufzeit von Stade.

Selbst wenn die Union auch Biblis A und Neckarwestheim I über die Legislaturperiode retten wollte - wollen das auch die Betreiber? Für beide AKWs gibt es im Atomkonsens Sonderabsprachen. Sie finden sich allerdings nicht im Gesetz, sondern im Einigungspapier mit der Industrie. Für Biblis A geht es um die "Notstandswarte": Hessens damaliger Umweltminister Karlheinz Weimar (CDU) hatte den Betreiber RWE verpflichtet, eine Super-GAU-sichere Steuerzentrale zu bauen. Dann kamen die Ausstiegsverhandlungen. RWE argumentierte, dass die knapp 1 Milliarde Euro teure Warte sowieso erst pünktlich zur Biblis-A-Abschaltung fertig würde. Die rot-grünen Unterhändler prüften und gingen auf RWE zu; im Juni 2000 erklärte das Bundesumweltministerium: "Unter der Voraussetzung einer Erklärung des Betreibers, auf Übertragung von Reststrommengen auf Biblis A zu verzichten, wird binnen drei Monate über ein angemessenes Nachrüstprogramm entschieden." Bedeutet: Nennt RWE ein konkretes Abschaltdatum, muss die Notstandswarte nicht gebaut werden. RWE ist darauf eingegangen, hat sich also aufs Abschalten festgelegt. "RWE würde seine Glaubwürdigkeit verlieren, wenn es trotzdem einen Antrag beim Bundesumweltminister einreicht", glaubt ein Verfahrenskenner.

Bleibt also Neckarwestheim. Zum 31. Dezember 2007 wird dort die periodische Sicherheitsüberprüfung fällig. "Diese Überprüfung ist sehr umfangreich und hat oft nicht ganz unwesentliche Investitionen in die Erneuerung der Sicherheitssysteme zur Folge", sagt Herbert Würth vom Aktionsbündnis Neckarwestheim. Allein der Check kostet nach Brancheninformationen deutlich mehr als 1 Million Euro.

Auch hier gibt es eine Sonderabsprache: Betreiber EnBW könnte sich die Sicherheitsüberprüfung sparen - wenn sich der Konzern zum Abschalten entschließt. Aber es gibt auch noch eine Alternative: "Theoretisch könnte EnBW in Neckarwestheim die verabredete Regellaufzeit durch gedrosselten Betrieb überschreiten - sogar bis in die nächste Legislaturperiode", so Atomexperte Traube.

"Alle zehn Jahre ist dieser Sicherheitscheck dran", bestätigt EnBW- Sprecher Dirk Ommeln gegenüber der taz. Noch sei nicht entschieden, ob der Konzern tatsächlich prüft. Ommeln: "Wenn wir den Sicherheits-Check machen, heißt das aber nicht, dass wir nicht wie vorgesehen abschalten werden." Auch beim inzwischen stillgelegten AKW Obrigheim habe man bis zuletzt in die Sicherheit investiert.

Andere Experten sind sich allerdings nicht so sicher, dass Absprachen und Betriebswirtschaft die Abschaltpolitik der Konzerne bestimmen. "Selbst eine investierte Milliarde kann ein Atomkonzern beim derzeitigen Strompreisniveau locker wegstecken", so Felix Matthes vom Ökoinstitut. Schließlich könne man mit Blöcken wie in Neckarwestheim jährlich "leicht eine Milliarde verdienen".

NICK REIMER

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wdr 08.01.2006

Bürgerinitiativen gegen Atom-Pläne der Union

Mit scharfer Kritik reagieren die Anti-Atomkraft-Initiativen im Münsterland auf die jüngsten Atompläne von CDU/CSU. "Der Vorschlag von NRW-Wirtschaftsministerin Thoben, eventuell neue Hochtemperatur-Atomreaktoren zu bauen, ist eine reine Provokation", sagte Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis "Münsterland gegen Atomanlagen" am Sonntag (08.01.06) in Ahaus. Die Hochtemperatur-Technologie sei in Hamm-Uentrop grandios gescheitert.

Die Panikmache vor hohen Gas- und Ölpreisen bezeichnete Eickhoff als überaus kurzsichtig und gefährlich. Die Atomenergie sei als "Rettungsanker" für eine mögliche Energiekrise nicht geeignet. "Atomkraft ist nicht ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems", betonte auch Felix Ruwe von der Initiative "Kein Atommüll in Ahaus".

Zuletzt hatte sich der hessische Ministerpräsident Roland Koch für die Option zum Bau neuer Atomkraftwerke in Deutschland eingesetzt. "Wir müssen uns diese Frage für das nächste Jahrzehnt offen halten", sagte Koch der "Leipziger Volkszeitung" (Montagausgabe). Das sei "eine technische und ökonomische, aber keine ideologische Frage". Ein Land, das gerade darum kämpfe, nicht zu teuer zu werden, könne sich "diesen volkswirtschaftlichen Unsinn nicht leisten, die sicheren Kernkraftwerke abzuschalten, die billigen Strom produzieren".

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