Welt am Sonntag 21.03.2004

Die gespaltene Stadt

Nach Ahaus sollten wieder Castor-Behälter gebracht werden. Die NRW-Regierung protestierte. Nun will Minister Trittin den Transport überdenken

von Andreas Fasel

Ahaus strahlt in diesen Tagen noch immer Ruhe aus, zwischen den Backsteinfassaden hängt ein Stimmungsgemisch aus Winterschläfrigkeit und Frühjahrsmüdigkeit. Und auch das Brennelement-Zwischenlager, ein zweihundert Meter langer Betonbau, der wenige Kilometer stadtauswärts liegt, döst unbehelligt im Morgendunst. Ein Wachmann schlurft über den Parkplatz, auf der Wiese davor äst unbekümmert eine Wisent-Herde.

Genau sechs Jahre ist es her, dass zuletzt Castor-Behälter hierher gebracht wurden. Und fast möchte man meinen, die Münsterländer Kleinstadt habe sich in diesen sechs Jahren mit ihrem Schicksal arrangiert, Lagerstätte von radioaktivem Abfall zu sein. Auf den ersten Blick scheint es, als liege schon der Schleier des Vergessens oder wenigstens der Normalität über Ahaus. Das Besucherzentrum des Zwischenlagers, vor ein paar Jahren noch von 8000 Interessierten jährlich aufgesucht, steht meistens ungenutzt herum; die einst mit Besucher-Führungen betraute Agentur gibt es schon gar nicht mehr. Bei der Bürgerinitiative "Kein Atommüll in Ahaus", mittlerweile im 27. Jahr ihres Bestehens, klagt man über Nachwuchsprobleme - die Jugend im Ort, so sagen die altgedienten Widerständler, habe nur noch Lifestyle im Kopf. Und ein drittes Sinnbild für das vermeintliche Verschwinden des atomaren Bewusstseins ist im Bürgermeisterbüro zu sehen - beziehungsweise nicht mehr zu sehen: ein gut zwanzig Zentimeter hohes Tischfeuerzeug in Form eines Castors, das Dirk Korte, der Bürgermeister der 38 000-Einwohner-Stadt Ahaus, jahrelang auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Vor einiger Zeit, erzählt er, habe er das Ding in irgendeiner Schublade versenkt, er wisse selbst nicht genau, wo es nun steckt.

In Kortes Schreibtisch-Schubladen liegen freilich auch noch andere Zeugnisse von vergangenen Versprechungen und Hoffnungen. Zum Beispiel ein Brief aus dem Bundesumweltministerium. In diesem Schreiben vom Dezember 1998 ließ Jürgen Trittin mitteilen, dass ein Zwischenlager im sächsischen Rossendorf beantragt werde. Sogar auf den CDU-Mann Korte, einen der vehementesten Befürworter eines Ahauser Atommüll-Lagers, hat dieser Brief eine wahrlich beruhigende Wirkung gehabt: Wenn Rossendorf ein eigenes Zwischenlager bekommen würde, so Kortes Überlegung, dann bliebe Ahaus ein erneuter Castortransport erspart, dann würde die Stadt um eine Wiederholung jenes Schreckensszenarios vom März 1998 herumkommen.

"Viele Ahauser haben das noch immer vor Augen", sagt Korte, und sein unruhig flackerndes Lächeln sagt, dass auch er selbst es noch deutlich vor Augen hat: "Es war so ein Tag wie heute", erzählt Korte, der Horizont war trüb, der Himmel bedeckt, und dann sah er plötzlich diese Hubschrauberformation, die im Tiefflug über die Stadt zog. Und niemand konnte diesen Tiefflügen entgehen, weil Polizeisperren und Sondereinsatzkommandos die Stadt in eine totale Regungslosigkeit gezwungen hatten. Nicht einmal Krankenwagen durften ausrücken.

Die Älteren sagten damals, es sei ja wieder wie im Krieg. Und das ist bestimmt nicht die Art von Lebensgefühl, die ein Bürgermeister vermitteln möchte - auch wenn er noch so sehr von der Richtigkeit eines Zwischenlagers überzeugt ist. Deswegen war für Korte das Trittin-Schreiben in seinem Schreibtisch so wichtig. Und deswegen sei er auch erleichtert gewesen, als ihm erst vor einigen Monaten jemand aus "gut informierten Kreisen der Energiewirtschaft" zugeflüstert habe, dass die Brennelemente des alten Rossendorfer DDR-Forschungsreaktors "ganz gut dort liegen bleiben könnten".

Aber plötzlich war es vorbei mit der Ruhe, plötzlich war da die Nachricht, dass im Mai 18 Castoren des Typs MTR-2 aus Sachsen nach Ahaus transportiert würden. Denn die Halle in Rossendorf sei für eine längerfristige Lagerung "weder konzipiert noch genehmigt", so sagte Trittin. Jenen Genehmigungsantrag für Rossendorf, der in dem Brief an Bürgermeister Korte noch angekündigt wurde, hat es offensichtlich nie gegeben.

Und nun? Nun stemmt sich die NRW-Landesregierung gegen Trittins Ankündigung. Der Ministerpräsident, der Verkehrsminister, der Innenminister, die Umweltministerin und sogar die Grünen in Sachsen - sie alle sagen, der Transport sei teuer, unsinnig und unnötig. Worauf Bundesumweltminister Trittin am Freitag die Transportpläne fürs erste stoppte - und die sächsische Landesregierung bat, zu prüfen, inwieweit man den nordrhein-westfälischen Wünschen nachkommen könne.

Felix Ruwe sagt: "Die Chancen, dass der Transport abgesagt wird, stehen im Moment so gut wie nie."

Ruwe ist Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der Bürgerinitiative "Kein Atommüll in Ahaus", die in der Innenstadt einige Räume angemietet hat. Ruwe muss zwar zugeben, dass das Anti-Atom-Engagement der Ahauser Jugendlichen nachgelassen hat. Andererseits aber kann er in diesen Tagen mit echten Erfolgsmeldungen aufwarten. Zum Beispiel sei für den heute Nachmittag angesetzten "Sonntagsspaziergang" (es ist bereits die 112. Demonstration gegen das Zwischenlager) mit so vielen Menschen zu rechnen wie schon seit Jahren nicht mehr. "Tausend Leute werden kommen", schätzt Ruwe, "und noch dazu hundert Trecker". Die Demonstration der Trecker fahrenden Bauern gab es in Ahaus zuletzt bei den Castortransporten vor sechs Jahren.

Außerdem hält Ruwe eine druckfrische Erklärung des katholischen Frauen-Verbands "kfd" in Händen: "Mit aller Entschiedenheit" spricht sich da der Verband gegen die Castortransporte aus - eine Stellungnahme mit Bedeutung: Der Verband hat im durch und durch katholischen Kreis Borken 30 000 Mitglieder und entsprechenden Einfluss. Immerhin stehen im Herbst Kommunalwahlen an, und da sei das Thema Castortransport "für die Ahauser CDU nicht sehr angenehm", wie sogar CDU-Bürgermeister Korte freimütig zugibt. Schließlich waren es allein die CDU-Ratsmitglieder, die einst das so genannte Trockenlager in Ahaus befürwortet haben.

Heute verläuft der Graben zwischen Befürwortern und Gegnern des Zwischenlagers nicht mehr entlang der Parteizugehörigkeit. Angeblich soll sogar ein CDU-Mitglied das eben erschienene Informationsschreiben der Bürgerinitiative finanziert haben. Eine der darin gestellten Fragen: "Wussten Sie, dass die Hallen in Rossendorf und Ahaus vergleichbar sind (Betonleichtbau)?"

Bürgermeister Korte weiß das - und wundert sich darüber genauso wie seine politischen Gegner von der Bürgerinitiative. Immerzu habe man den Ahausern eingeschärft, erzählt Korte, dass es in Fragen der Sicherheit letztlich nicht auf die Stabilität einer Lagerhalle ankomme, sondern einzig und allein auf die Castor-Behälter, in denen die Brennelemente eingeschweißt sind. Und nun auf einmal behauptet Trittin, die Lagerhalle in Rossendorf sei nicht gut genug?

200 Meter lang, 20 Meter hoch, 38 Meter breit - eine Riesen-Schachtel, die aus 50 Zentimeter dicken Betonwänden zusammengesetzt ist. Das Dach: ebenfalls 50 Zentimeter Beton. Das ist das Zwischenlager Ahaus. Am einen Ende der Halle stehen derzeit 305 sogenannte THTR-Behälter, jeder ist 2,60 Meter hoch, darin befinden sich die Überreste des Kraftwerks Hamm-Uentrop. Am anderen Ende der Halle stehen drei Behälter vom Typ Castor V/52 sowie drei vom Typ Castor V/19, sie sind je 5,80 Meter hoch, 130 Tonnen schwer und haben an ihrer Außenseite noch eine Temperatur von rund 35 Grad. Zum Teil stehen die Castoren in Pfützen - und setzen Rost an. Was die Betreiber-Firma, die Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), als nicht weiter dramatisch und leicht zu beheben bezeichnet. Die Kritiker sehen darin einen weiteren Beleg für den schlechten Zustand der Halle.

Von den 420 Stellplätzen in der Halle sind noch rund 370 frei. Die Betreibergesellschaft GNS plant für die Zukunft nicht nur mit den 18 Castoren aus Rossendorf, sondern auch mit zu lagernden Brennelementen aus den Forschungsreaktoren Mainz, Berlin oder Garching. Auch dort gibt es keine eigenen Zwischenlager und keine entsprechenden Genehmigungsanträge. Außerdem steht für das Jahr 2008 die Rückkehr des Atommülls aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague bevor.

Spätestens dann wird Ahaus zum nächsten Mal aus seiner Ruhe gerissen werden.

Artikel erschienen am 21. März 2004

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